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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0186

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rischen Unternehmungen der Zeit. Mit den
Männern, deren Namen wir oben angeführt
haben, gründete er eine in Belgien berühmte
Zeitung, „Die Freiheit". Diese Zeitung, die
nur wenige Jahre existirte, hatte einen sehr
bedeutenden Einfluß auf die demokratischen
Ideen. Es war die einzige Zeitung, welche
es bei uns zur Zeit der Unruhen der Kom-
mune wagte, die Vertheidigung unserer franzö-
sischen Brüder zu übernehmen. Eine Zeit
lang war sie sogar das offizielle Organ der
Pariser Kommune. Man mußte damals ziem-
lich viel Energie haben, um es zu wagen,
dem Europa durchbrausenden Reaktionssturm
die Stirn zu bieten. Von dieser Zeit an
begann H. Denis jene ununterbrochene Reihen-
folge von Broschüren, Artikeln und Büchern
zu veröffentlichen, die von einer ungewöhn-
lichen Belesenheit zeugen.
1871 veröffentlichte er eine Studie über
„Die repräsentative Organisation der Arbeit",
dann eine Arbeit über: „Die augenblicklichen
Tendenzen des europäischen Proletariats",
und eine andere über: „Den Ursprung und
die Entwicklung des ökonomischen Rechtes".
Weiter veröffentlichte er statistische Arbeiten
vom höchsten Werth, aber im Allgemeinen
wenig bekannt. Zu den wichtigsten gehören
sein großer ökonomischer Atlas von Belgien;
seine Studien über die Beziehungen zwischen
der Geburtenzahl und den Getreide- und Kohlen-
preisen; seine Denkschriften über Lebenshal-
tung und Arbeitskraft. Darauf veröffentlichte
er eine bemerkenswerthe Arbeit über die
Waarensteuer, eine andere über wirthschaft-
liche Depressionen, und ganz kürzlich ein wich-
tiges Werk über „Die Geschichte der ökono-
mischen und sozialistischen Systeme", welches
er hauptsächlich dem Studium der physiokra-
tischen Schule widmet.
Und während er an diesen Büchern ar-
beitet, hält er an der polytechnischen Schule
Vorlesungen über industrielle Gesetzgebung
und Nationalökonomie, in der wissenschaftlichen
Fakultät über Philosophie, in der Schule der
sozialen Wissenschaften Vorträge über die Ge-
schichte der sozialen Systeme im 19. Jahr-
hundert und außerdem noch die von der Stadt
Brüssel eingerichteten öffentlichen Vorträge
über Nationalökonomie und die Vorlesungen
über Geographie im Lehrerinnenseminar.
Alle diese Arbeiten, alle diese Vorträge
werden mit unvergleichlicher Gewissenhaftig-
keit ausgeführt; er ist fortwährend besorgt,
mit der größten wissenschaftlichen Ehrlichkeit
zu arbeiten und alles auf jene großen Humani-
tären Ideen zurückzuführen, welche die Leit-
sterne seines ganzen Lebens gewesen sind.
Kein Professor wird mehr geliebt oder geachtet
als er. Selbst unsere milchendsten Gegner
wagen nicht, es ihm gegenüber an Achtung
fehlen zu lassen. Zu jeder akademischen oder
Regierungskommission, die sich mit ökonomischen
oder sozialen Fragen beschäftigt, wird er zuge-
zogen. Jedoch muß man diese Ausnahmsstellung,
die er einzunehmen scheint, auch dem Umstande
zuschreiben, daß H. Denis fast ausschließlich
ein Mann der Studirstube, ein sehr friedlicher
Mensch ist. Bei ihm liegt die Sache nicht so
wie bei den Männern der That in unserer
Partei, er hat mit dem Feinde keine Berüh-
rungen im täglichen, wilden, erbitterten Kampf,
der liebenswürdige Höflichkeit nicht mehr ge-
stattet, wie sie zwischen Menschen, die nur am
grünen Tisch streiten, herrschen kann. Seine
Stellung wird durch die Umstände erklärt, im
klebrigen ist er einer unserer besten Genossen
und Vertheidiger unserer Ideen.
Obwohl er gar keine Neigung zu politischer
Bethätigung hat, gab er doch vor drei Jahren

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den Bitten seiner Freunde nach und willigte
ein, in Lüttich der Kandidat der vereinigten
Radikalen und Sozialisten zu sein. So wurde
er Abgeordneter. Er hat in der Kammer schon
zahlreiche Reden gehalten, stets von bemerkens-
werther Weite der Anschauung und großer
Jdeentiefe. Jedoch ist er kein ungestümer, den
Kampf liebender Redner; er bleibt stets der
Mann der Wissenschaft, der seine Reden ebenso
gewissenhaft ausarbeitet wie alles andere, der
sie aus Thatsachen und Argumenten aufbaut,
auf die unsere Gegner gewöhnlich nichts zu
antworten wissen, und woraus seine Zuhörer
und alle Parteiangehörigen werthvolle Waffen
gewinnen für den Kampf, den mir unternommen
haben. Zum Theil auch ihm verdankt der bel-
gische Sozialismus jene Größe der Auffassung,
die einen Haupttheil seiner werbenden Kraft
ausmacht.
Louis Bertrand. Obwohl vierzehn Jahre
jünger als Denis (er ist 18S6 geboren), ist
Bertrand nicht viel später als er in den sozia-
listischen Kampf eingetreten. Er ist aber auch
ein Arbeiterkind und durch seine Lebensstellung
den Leiden der arbeitenden Klasse nahe gerückt.
Mit zwölf Jahren mußte er die Schule ver-
lassen, um seine Familie zu unterstützen, und
Zeitungsverkäufer werden. Dann lernte er als
Steinhauer und wurde Marmorarbeiter. Bald
füllte das Studium der sozialistischen Lehren
alle Mußestunden aus, die ihm sein Beruf ließ.
Von Anfang an war er ein Kämpfer, einer von
jenen, die am tiefsten in den täglichen Kampf
der Partei hineingezogen sind. 1872 wurde er
Mitglied der Internationalen, und nach ihrem
Ausgang versuchte er unter den; Namen
Belgischer Arbeiterverein eine belgische
sozialistische Partei zu gründen. Zu gleicher
Zeit war es seinem organisatorischen Talente ge-
lungen, die Brüsseler Vereine unter dem Namen
„Arbeiterkammer" zu gruppiren. 1877
nahni er an dem berühmten Kongreß von Gent
theil, wo die Anarchisten und Sozial-
demokraten um die Herrschaft in der inter-
nationalen sozialistischen Bewegung kämpften.
Er trug mit dazu bei, die sozialistische Partei
zum Eintritt in die politische Arena zu be-
stimmen.
Um diese Zeit gründete er die Zeitschrift
„Die Stimme des Arbeiters", ein wöchentliches
Organ, welches großen Einfluß auf den Fort-
schritt unserer Ideen hatte. Diese Zeitung
nahm im Jahre 188S, nach der Konstituirung
der belgischen Arbeiterpartei, den Namen „Das
Volk" an und ist seitdem das offizielle Organ
des belgischen Sozialismus geblieben. Heute
ist diese Zeitung stark und mächtig — und mit
welcher Anstrengung wurde sie damals am
Leben erhalten! Unser Freund erzählt gern
eine Episode vom ersten Tage ihres Lebens:
Die Zeitung sollte am 12. November 1888 er-
scheinen; keiner der Mitarbeiter, unter denen
sich auch unser leider zu früh verstorbener
Jean Volkers (s. Nr. 288 d. Bl.) befand, hatte
irgendwelche Geldmittel. Der Drucker gab
Kredit, aber man brauchte einen Ofen und
Lampen für ein kleines Zimmer iin ersten Stock
einer Wirthschafl. Sie wurden von dem gegen-
überwohnenden Eisenhändler erstanden. Milot,
noch jetzt Herausgeber des „Volk", war zum
verwaltenden Kassirer dieser wichtigen Unter-
nehmung ernannt worden. Zehn Minuten nach
6 Uhr erscheint der Kommis des Eisenhändlers,
um das Geld zu erheben. Milot setzt ganz
ernsthaft seine Brille auf und sagt dem jungen
Mann: Mein Freund, es ist zehn Minuten nach
6 Uhr — die Kasse ist geschlossen! (Die Kasse
war übrigens eine leere Zigarrenkiste.) Eine
halbe Stunde später erschien die erste Nummer
des „Volk".

Die Arbeiterpartei war im Entstehen be-
griffen. Bertrand half ihre ersten Schritte
leiten. Mehrere Jahre lang versah er das
Amt eines Generalsekretärs der Partei. Er
war auch einer von denen, die am meisten
zur Entwicklung der Genossenschaftsbewegung
beitrugen; mit Volders organisirte er die erste
Gruppe, welche später das berühmte Brüsseler
„Bolkshaus" werden sollte, und noch heute giebt
er eine kleine Zeitung heraus: „Der Genossen-
schaftler".
Außer einigen bedeutenderen Arbeiten, wie:
„Abhandlung über den Lohn", „Die Hausung
der Arbeiter in Belgien", „Das Genossenschafts-
wesen in Belgien", hat er eine ungeheure An-
zahl Broschüren für dis Propaganda veröffent-
licht. Diese Broschüren haben meist sehr großen
Erfolg bei den Arbeitern, denn er versteht es
besser als irgend ein anderer Schriftsteller der
Partei, ihnen in klarer und einfacher Sprache
nahe zu kommen.
1894 wurde er zum Abgeordneten für das
Arrondissement von Soignies gewählt. In der
Kammer ist er, wie überall, eines der thä-
tigsten Mitglieder. Außerdem ist er Stadtrath
in einer der wichtigsten Vorstädte der Haupt-
stadt, und auch da entwickelt er einen Eifer,
der die Gegner verblüfft.
Bertrand ist keine Rednernatur; er liebt
die öffentlichen Versammlungen nicht, wo er
reden muß. Er ist kein Großthuer, und die
Jugend zürnt ihm bisweilen wegen seiner
Mäßigung; aber er ist ein Mann, der viele
Kämpfe erlebt und sich eine große Menschen-
und Sachkenntnis; erworben hat. Die Partei
besitzt in ihm einen ihrer tapfersten Vorkämpfer,
und dank seiner kräftigen Gesundheit kann man
hoffen, daß er unserer Sache noch lange zahl-
reiche Dienste leisten wird.
Eduard Anseele. Ein geborener Organi-
sator, aber noch mehr ein geborener Redner,
ein wahrer Volkstribun! Mit seinem goldenen
Herzen ist er die Güte selber, obwohl er im
ersten Augenblick etwas rauh erscheint und als
Redner manchmal eine gewisse derbe Grobheit
zeigt. Sie ist jedoch mehr scheinbar als wirk-
lich, denn meist ist es nur eine Offenheit, an
welche sich unsere Parlamente nicht leicht ge-
wöhnen — man nennt ihn bisweilen den
„Virtuosen der Grobheit"; dabei ist er der
bescheidenste und unermüdlichste Mensch.
Er wurde 1856 als Sohn eines Schuh-
machers geboren, der ihm Elementarunterricht
geben ließ; da er aber einen lebhaften Verstand
zeigte, wurde ihm gestattet, seine Studien noch
mehrere Jahre fortzusetzen. Später wurde er
Kommis bei einem Fabrikanten. Auch er
wurde von den sozialistischen Ideen angezogen,
welche während der letzten Jahre der Inter-
nationale die belgischen Arbeiter aufrüttelten.
In den Jahren 1874—76 wurde er durch die
Propaganda Edmund Van Beverens in Gent
in die Bewegung gezogen — auch einer jener
Tapferen, denen die Partei nie genug Dank be-
zeigen kann. Anseele wurde Zeitungsverkäufer,
und weihte sich, 18 Jahre alt, mit Leib und
Seele der sozialistischen Propaganda. Er trat
mit Bertrand in Verbindung, welcher soeben
in Brüssel die „Arbeiterkammer" gegründet
hatte. In Gent gründete er mit Van Beveren
die Zeitung „Der Volkswille"; um dieselbe
Zeit schrieb er das einzige bedeutendere Werk,
das wir bis jetzt von ihm haben: „Dem Volke
geopfert".
1880 gründete er bescheiden mit mehreren
Freunden die Genossenschaft „Vooruit", die
heute so mächtig ist. 1884 war es die Zeitung
„Vooruit", die er begründen half. Seit 1886
ist das Leben Anseeles und das Van Beverens
das Leben der Genter Organisationen und be-
 
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