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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0189

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2531

vor einigen Wochen haben auch die Tischler
und Zimmerleute in Brüssel ihre genossenschaft-
lichen Werkstätten eröffnet. Obschon erst seit
einigen Wochen gegründet, hat die Gesellschaft
bereits wichtige Arbeiten auszuführen. Eine
andere sehr interessante Genossenschaft, die
der Kranzbinderinnen, ist ebenfalls kürzlich ge-
gründet worden. Sie ist die erste von Frauen
gegründete Genossenschaft. Die Kranzbinde-
rinnen sind die Opfer einer um so größeren Aus-
beutung, als die Unternehmer wenig zahlreich
sind.
4. Dir Agrarfrage.
Die Lösung der Agrarfrage ist bei uns
ebenso schwer wie in den übrigen Ländern,
dank der Verschiedenartigkeit ihrer Gestalten
und den geringen Kenntnissen, die wir von den
praktischen Verhältnissen haben, unter denen
sie entsteht. Seit gut einem Jahre ist die
belgische Arbeiterpartei lebhaft mit ihr be-
schäftigt. Während sie sich bisher im Wesent-
lichen an die Industriearbeiter gewandt hat
und ihre Anstrengungen in dieser Richtung
auch von Erfolg gekrönt worden sind, ist die
große Masse der Landarbeiter und Bauern
bisher unberührt geblieben. Von Anfang an
haben wir die Schwierigkeiten unseres Unter-
nehmens wohl eingesehen, besonders in einem
Lande, wo der religiöse oder vielmehr der
fanatische Geist noch so mächtig ist. Unsere
erste Aufgabe wird es sein, das Land kennen
zu lernen; eine ungeheure Enquetearbeit muß
erst noch verrichtet werden, bevor wir hoffen
können, über die Heilmittel, welche die gegen-
wärtige Lage erfordert, zu einem Beschluß zu
kommen und unsere Ideen in die Reihen der
Landleute zu tragen. Wenn noch die Frage
in ganz Belgien dieselbe wäre, aber unser
so kleines Land zerfällt bereits in sechs durch
die Natur des Bodens, die Art der Kultur
und die Form des Grundeigenthums verschie-
dene Distrikte. Die Polders, Flandern und
Campine, Hesbaye, Condroz und Ardenne
zeigen sehr verschiedene Grade der Fruchtbar-
keit und ebenso verschiedene Wirthschaftsfor-
men; der Boden ist ungleich vertheilt; die
Anwendung von Maschinen hat sich nur in
Hesbaye verbreitet; mehrere Gegenden haben
die Sitten vergangener Jahrhunderte und be-
sondere Gebräuche bewahrt.
Gerade weil die Brüsseler Föderation sich
aller dieser Schwierigkeiten bewußt war, for-
derte sie vom Londoner Kongreß die eingehende
Behandlung der Agrarfrage und die Einsetzung
eines internationalen Komites mit der Aufgabe,

das statistische und sonstige Material über die
Agrarfrage zu sammeln. Seitdem hat die
Brüsseler Föderation ihren Vorschlag in die
Thal umgesetzt: eine Enquete über die wirth-
schaftlichen, geistigen und moralischen Ver-
hältnisse der Landbewohner wurde von ihr
unternommen und ein sehr ausführlicher Frage-
bogen an eine große Zahl sachverständiger Per-
sönlichkeiten geschickt. In Kürze werden wir
also eine soziale Monographie über die Dörfer
des Brüsseler Arrondissement besitzen. Außer-
dem hat E. Vandsrvelde einen Fragebogen in
ganz Belgien ausgesandt und so eine Anzahl
von Monographien über Dörfer, welche den
verschiedenen Distrikten des Landes angehören,
gesammelt. — Seit zwei Monaten haben die
Nothwendigkeit, Einheit in unser Vorgehen zu
bringen, und der Wunsch, diese Untersuchungen
in systematischer Weise über ganz Belgien aus-
zudehnen, zur Einsetzung einer zentralen Agrar-
kommission geführt.
Der Genter Kongreß, auf dessen Tages-
ordnung die Agrarfrage stand, hielt es für
angemessen, die Diskussion darüber einem spe-
ziellen Kongreß zu überweisen, der im nächsten
Juli in Nivelles stattfinden wird. Die von
uns erwähnte Kommission ist damit beschäftigt,
das wichtigste Material zusammenzutragen.
Ohne Zweifel wird dieser Kongreß, an dem
nicht nur die Theoretiker des Sozialismus,
sondern auch Landleute, Pächter und Land-
arbeiter theilnehmen werden, von dem größten
Interesse im Allgemeinen und von großem
Nutzen für unsere Partei sein.
s. Die anNniiliiaristische Propaganda.
Obschon der Kampf gegen den Militaris-
mus ein Punkt des Programms fast aller
Arbeiterparteien der Welt ist, so giebt es doch
nirgends eine so wohl organisirte und so be-
deutende Bewegung, die denselben zu ihrem
Gegenstand hat, wie bei uns. Sie verdient
in der That ein besonderes Kapitel. Diese Pro-
paganda wird vor allem von den Gruppen
der „Jungen Garde" getrieben. Die Entwick-
lung dieser Bewegung beunruhigt schon heute
die Regierung aufs Ernstlichste. Auf dem
Kongreß zu Charleroi zählte die Föderation
der „Jungen Garde" 43 Gruppen, gegenwärtig
deren 120. Sie besteht im Ganzen aus
10000 jungen und kampfbegierigen Mitgliedern.
Ueberall, wo eine Gruppe der „Jungen
Garde" gegründet wird, bemüht sich diese, alle
jungen Leute, welche in Bälde Soldat zu
werden haben, zu Mitgliedern zu gewinnen.

Diese einmal dem Sozialismus gewonnen,
werden dann später im Schoße des Heeres
selbst unermüdliche Propagandisten. Um dieser
Propaganda Nachdruck zu verleihen, hat die
Partei bereits im letzten Jahre beschlossen,
eine großartige Demonstration gegen die Blut-
steuer in Brüssel im Sommer 1897 abzuhalten.
Eine besondere Zeitung, die „Avantgarde",
dient der „Jungen Garde" und den sozialisti-
schen Studenten als gemeinsames Organ.
Außerdem werden zur Zeit der Losungen und
des Eintritts der Soldaten in die Kasernen
besondere Nummern in großer Zahl unent-
geltlich vertheilt. — Diese Gruppen sind nicht
nur für die spezielle Propaganda von Nutzen;
sie dienen auch dazu, die jungen Leute später
den Reihen des sozialistischen Heeres und da-
mit den Gewerkvereinen, den Hilfskassen, den
Genossenschaften u. s. w. zuzuführen.
Nach allem, was ich über das Wachsthum
unserer Partei zu berichten Gelegenheit hatte,
scheint es mir überflüssig von der gewaltigen
Entwicklung unserer Presse und der stets
wachsenden Zahl der Broschüren zu sprechen.
Nur ein Wort noch über die Sektionen für
Kunst und Erziehung, die gleichfalls aufs Vor-
trefflichste blühen. Die Kunst ist ein mächtiger
Kulturhebel und nur wer ein Ideal hat, ist im
Stande, eine persönliche, originale Kunst zu
schaffen, die seine Gedanken, seine Bestrebungen
und seine Lebensauffassung ausdrückt. Mit
Freude können wir daher die Zugeständnisse
unserer Gegner hier verzeichnen, so beschränkt
dieselben auch sind. Gelegentlich des letzten
Maifestzuges lasen wir in einer reaktionären
Zeitung das folgende Lob: „Für die belgische
Arbeiterpartei ist der 1. Mai eine Gelegenheit,
ihre schöne Organisation, ihre starke Disziplin
und ihr tiefes Verständniß für Schaustellungen
zu beweisen. Nur noch die Kirche besitzt in
diesem Punkt eine gleiche Kunst. Die Festzüge
des 1. Mai sind mit Rücksicht ihres Eindrucks
auf die Masse mit einer erstaunlichen Geschick-
lichkeit zusammengestellt und vorgeführt, und
müssen einen Eindruck machen."
Wer weiß, wie spontan die Bildung dieser
Festzüge ist, der wird bei einem Vergleich der
mit allem Glanz der Kirche ausgestatteten
religiösen Festzüge mit der stolzen, würdigen,
menschlich unabhängigen Art unserer Maifest-
züge begreifen, daß er dort eine sterbende
Religion und hier eine entstehende: die Re-
ligion der Menschheit sieht.

Mn 31. August beginnt ;u erscheinen:
Geschichte
der
FmnMschkil Revolution von 1848
und der
Zweiten Republik.

Volkskhümlich dargestrllk
von
Louis Hrritier.

Hrrausgrgrbrn und erweitert von W. Eichlzvff und
Ed. Bernstein.

Komplrl i» ra. LS Lieferungen a 20 Pfennig.

Vraspekt.
Zn dem Erscheinen der Internationalen Biblio-
thek H. Serie ist eine nicht unerhebliche Unterbrechung
eingetreten. Das vorliegende Werk sollte sich unmittelbar
an Blos, Die Deutsche Revolution, anschließen. Durch
eine schwere Erkrankung mit darauffolgendem Tod von
Wilhelm Lichhoff wurde es verhindert. Run hat
Ld. Bernstein in London die Freundlichkeit gehabt, das
aus dem französischen ins Deutsche übersetzte Manuskript
durchzusehen und so die Herausgabe zu ermöglichen.
Der Verlag hofft, daß auch dieses Werk die gleiche
freundliche Ausnahme und ebenso viele Abnehmer finden
möge, wie die vorausgegangenen Merke der Internatio-
nalen Bibliothek.

rv. s. g.».
 
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