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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0228

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2568

Es war schon Feierabend, als sie in eine der
armseligen Hütten cintrat. Der Arbeiter sag mit
seiner Fran und den fünf Kindern am Tische,
auf dem das magere Abendessen stand.
Der Arbeiter erhob sich, als die Lüge eintrat.
„Verzeiht", sagte die Lüge, „wenn ich Euch
störe. Mein Name. . . ."
„O, wir Arbeiter kennen unsere Wohlthäter.
Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?"
„Entschuldigt nochmals. Aber ich möchte Euch
um Euern Rath ersuchen."
„Meinen Rath? Sie wissen, von Ihren An-
gelegenheiten verstehe ich nichts. Da müssen Sie
schon zu den gelehrten Herren gehen."
„Ganz richtig. Aber ich komme soeben von
diesen", sagte die Lüge.
„Nun?"
„Ich bin alt geworden."
„Das läßt sich nicht bestreiten."
„Und die neuen Kleider, die mir die gelehrten
Herren geben, die machen mich nicht jünger."
„Allerdings", lachte der Arbeiter. „Sie möchten
also gern wieder jung werden? Und deshalb
kommen Sie zu mir?"
„Nicht so ist's gemeint. Ganz im Gegentheil.
Ich weiß, daß ich nie wieder jung werden kann.
Ich möchte noch ein recht gutes Werk thun."
„Gewissermaßen Buße thun? Nun, die Praxis
ist ja beliebt. Aber was soll ich dabei?"
„Sagen sollt Ihr mir, wie ich das anfange."
Der Arbeiter sah die Lüge vom Kopf bis zum
Fuße an, überlegte einen Augenblick und sprach:
„Nun denn . . . streiken Sie!"
„Aber ich weiß ja gar nicht . . ."
„Ach so. Sie wissen nicht, ivas das ist? Ar-
beitsverweigerung ist das. Verweigern Sie den
Herrschaften die Arbeit!"
„Aber dann. . ."
„Stürzt alles zusammen, meinen Sie?"
„Ja."

„Trösten Sie sich. Es sind Bauleute da, die
Neues bauen."
„Dann befolge ich Euern Rath. Ich danke
Euch. Lebt wohl."
Damit ging die Lüge. Und diesmal hatte sie
das Gefühl, als ob sie wirklich etwas Gutes und
Großes thun wolle!
War das ein Durcheinander am nächsten Tage.
Die tollste Phantasie hätte sich etwas Derartiges
nicht auszudcnkeu vermögen. Alles drunter und
drüber, rechts war links geworden, schwarz weiß
und krumm gerade.
Im Reichstag hatte ein sozialistischer Redner
den Antrag auf sofortige Abschaffung der stehen-
den Heere Angebracht und zugleich eine scharfe
Rede über den Militarismus mit allen seinen
Begleiterscheinungen, Soldatenmißhandlungen, un-
erträgliche finanzielle Lasten für den arbeitenden
Thcil der Bevölkerung und vieles Andere gehalten.
Darauf war der Kriegsministcr aufgestauden, um
die Unmöglichkeit und Aussichtslosigkeit einer Ab-
schaffung der stehenden Heere uachzuwcisen. Aber
nach dem ersten Satze stockte er und statt di^ Be-
hauptungen des Redners zu widerlegen, bestätigte
er dieselben in allen Einzelheiten und zum Schluß
trat er selber für den sozialistischen Antrag ein.
Den Abgeordneten erging es ebenso. Niemand
wußte, wo ihm der Kopf stand. Alle Beweise,
die man sonst dutzendweise gegen die Sozialisten
in Händen hatte, waren wie weggeblasen und es
blieb den Herren nichts übrig, als dem Beispiel
des Regierungsvertreters zu folgen und den An-
trag anzunehmen.
Kühn gemacht durch diesen Erfolg, verlangten
die Sozialisten eine parlamentarische Negierung
mit absoluter Gewalt des Reichstags über dieselbe.
Auch dieser Antrag wurde angenommen.
Während dessen sah es im Lande selbst nicht
anders aus. Die Professoren der Philosophie,

Geschichte, Nationalökonomie u. s. w. hatten plötz-
lich andere Ideen bekommen, zum großen Gaudium
ihrer Zuhörer. Auf den statistischen Bureaus
kehrte sich alles von oberst zu unterst, in den
Schulen und Kasernen war die verkehrte Welt.
Ein Journalist, der über einen Streik tele-
graphircn wollte, fiel auf dem Telcgraphenbureau
vor Schreck in Ohnmacht, weil der aufgesetzte
Text völlig der Wahrheit entsprach. Die Zeitungen
aller Richtungen boten eine interessante Lektüre.
Wo sonst der Sozialismus vernichtet und als
Hirngespinst von Träumern oder als Verhetzungs-
mittel gewissenloser Agitatoren hiugestellt wurde,
las man klare, nüchterne Vertheidigungen des
Sozialismus.
Und. erst in Gesellschaften! Der Reservelicute-
nant Schneidig sagte einem Fräulein, um dessen
Hand — sie war Besitzerin von zwei Millionen
Mark — er gestern noch anzuhalten sich ent-
schlossen hatte, geradewegs ins Gesicht, daß sie
eine dumme Gans sei, die nur deshalb so von
Herren umschwärmt werde, weil sie auf einem
so gut gefüllten Geldsack sitze. Die Frau eines
Regieruugsassessors, die ein zartes Verhältniß mit
einem Offizier unterhielt, verlachte ihren Manu in
offener Gesellschaft, daß er ein brutaler und dum-
mer Kerl sei, den sie nur genommen habe, um
eine Rolle in der Gesellschaft spielen und ungestört
ihren Liebhabereien nachgeheu zu können.
Am Abend brachten die Zeitungen aus der
Reichshauptstadt die telegraphische Nachricht, daß
die Regierung wie auch die gesammte Verwaltung
und die ganze öffentliche Geivalt in den Händen
der Sozialisten seien. Es herrsche völlige Ruhe
und man könne der weiteren Entwicklung getrost
entgegensetzen.
Am nächsten Morgen aber erschien in allen
Blättern des Reiches die aufsehenerregende Mit-
theilung, daß in der Nacht die Lüge gestorben sei.
Sperber.


Der Attentäter Angiolillo wird vom spanischen Rriegsgericht zum Lode verurtheilt.

Von Mehring, Die Geschichte der Deutschen
Sozialdemokratie, ist der erste Theil des Werkes erschienen.
Preis broschirt Mk. 3.60, gebunden in Leinmd. Mk. 5.—, in
Halbfrz. Mk. 6.—
Vom zweiten Theil sind 3 Hefte (19 bis 21) zur Ausgabe

Geschichte der Französischen Revolution von 1848
und der Zweiten Republik. Volkstümlich dargestellt
von Louis Höritier. Herausgegeben und erweitert von
W. Eichhoff und Ed. Bernstein. Komplet in ca. 25 Lieferungen.

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auf diese Werke entgegen.
Recht zahlreichen Subskriptions-Anmeldungen entgegen-
sehend, zeichnet Hochachtungsvoll
I. H. W. Dietz Nachf. (G. m. b. H.)

Verantwortlich für die Redaktion Georg Baßler in Stuttgart. — Druck und Verlag von I. H. W. Dietz Nachf. (G. m. b. H.) in Stuttgart.
 
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