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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0247

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2587


„Grade kommt er von der Messe", wurde berichtet.

ist seine Nahrung, ärmlich sein Kleid, nnd seine
Stimme gilt nichts in der Gemeinde.
„Aber Steuern muß er geben und schaffen muß
er ohne Rast und Ruhe, damit die Reichen gute
Tage haben.
„Die Reichen sitzen an gedeckten Tafeln, schwel-
gen bei Wein und köstlichen Gerichten und arbeiten
nicht.
„Und es stehet doch geschrieben in der heiligen
Schrift: ,Wer nicht arbeiten will, der soll auch
nicht essen.'
„Männer aber giebt es in schwarzen Kutten,
die dem Volke predigen Knechtssinn und Ent-
sagung, damit die Ungerechtigkeit der heutigen
Welt fortbcstehcn solle in alle Ewigkeit."
Hier erlaubte sich der Schäfer Thomas noch
eine längere ziemlich unsanfte Kritik der Ultra-
montanen und ihrer agitatorischen Thätigkeit in
nnd außer der Kirche. Die Bauern horchten
immer aufmerksamer. So etwas hatten sie noch
nie gehört.
Weiter hieß es nun:
„Es stehet aber geschrieben in der heiligen
Schrift, Sprüche Salomonis: .Unrecht Gut ge-
deihet nicht', und wiederum stehet geschrieben:
„Hochmuth kommt vor den Fall.'
„Solches achten nicht die Reichen, die da in
stolzen Karossen vorüber fahren und auf uns, die
armen Bauern nnd Hirten, hernieder schauen,
hochmüthig, wie auf die Thiere der Weide.
„Ich aber will Euch verkünden, was ich in
der Zukunft geschaut habe.
„Es lvird kommen Er, den sie nennen Anti-
christ oder Umstürzler, den sie schmähen und ver-
folgen, wie sie alle Propheten geschmäht und ver-
folgt haben. Es wird kommen der Sozial-
demokrat.
„Er wird klopfen an Eure Thüren und wird
Euch aufrufen, znsammenzutreten und für Euer
Recht zu stehen.

„Und Ihr sollt ihn empfangen mit offenen
Armen, sollt ihm Gehör schenken, und wenn es
zum Wählen geht, dann sollt Ihr ihn wählen.
„Denn er will Euch wohl und hat den Muth,
Eure Sache zu fuhren gegen die Großen und
Mächtigen, gegen schwarze Kutten und gegen
buntes Tuch."
Hier folgte nun eine klare nnd einfache Dar-
legung dessen, was der Sozialdemokrat will.
Während der Einödbauer den verwunderten
Hörern dies mit dröhnender Stimme vorlas, trat
der Gemeindevorsteher Lämmchen ins Gastzimmer.
„Was geht denn hier vor?" fragte er betroffen.
Man bedeutete ihm, daß es sich um eine neue,
sehr wichtige Prophezeiung des Schäfers Thomas
handle. „Dann lest nur weiter", sagte er be-
friedigt nnd hörte nun ebenfalls eifrig zu.
Bald aber wurde er unruhig. Das klang ja
gerade, als ob der prophetische Schäfer auf seine
alten Tage unter die Sozialdemokraten gegangen
wäre! Sollte denn das mit rechten Dingen zu-
gehen? Lämmchen schüttelte den Kopf immer
heftiger und schließlich unterbrach er die Vorlesung
mit der lauten Frage, wo denn heute der Herr
Pfarrer sei?
„Grade kommt er von der Messe", wurde
berichtet.
„Dann lasse ich ihn bitten, sogleich hierher zu
kommen."
Pfarrer Neunauge kam, überflog mit raschen
Blicken die Prophezeinng des alten Schäfers
Thomas nnd wußte sofort, woran er mar.
„Ihr Unglücklichen!" rief er im Kanzelton.
„Ihr seid einem Bubenstreich zum Opfer gefallen.
Der böse Feind hat sich eingeschlichen, um Eure
einfältigen Herzen zu vergiften. Der Antichrist,
der Sozialdemokrat ist da, nnd was Ihr in den
Händen haltet, ist keine Prophezeiung des from-
men Schäfers, sondern eine sozialdemokratische
Agitationsschrift!"

Die Bauern machten lange Gesichter. Die
Prophezeiung hatte ihnen doch so gut gefallen, und
nun sollte sie vom „bösen Feind" herrühren. Die
Meisten entfernten sich schweigend; aber ihre Flug-
schrift nahmen sie mit; die mußten doch Vettern
nnd Nachbarn auch sehen.
Lämmchen schrie nach dem Gemeindediener,
um den fremden Hausirer verhaften zu lassen.
Der Gemeindediener war aber zunächst nirgends
zu finden, und als man ihn fand, war er dienst-
unfähig, da er einen Kanonenrausch hatte. Mit
Mühe wurde über die Entstehung dieses Rausches
folgendes ermittelt: Ein fremder Kolporteur hatte
dem Gemeindedicncr eine Anzahl von Exemplaren
einer Prophezeiung des alten Schäfers Thomas
geschenkt, mit der Bemerkung, er solle sie nur
auf den Höfen Herumtragen, einen Schnaps werde
er überall dafür erhalten. Und der Gute hatte
nur zu viele Schnäpse bekommen!
Wo aber war der fremde Kolporteur? Der
hatte sich, wie man erfuhr, auf sein Zweirad ge-
setzt, welches er vorher in der Försterei eingestellt
gehabt, und war über alle Berge davongeradelt.
Ihn jetzt noch zu ergreifen, war die reine Un-
möglichkeit.
Verfolgt wurde er aber dennoch, und die
Bauern steckten die Köpfe zusammen und munkel-
ten allerlei: „Ein Sozialdemokrat war da?" „Das
ist es ja eben, was der Schäfer Thomas prophe-
zeit hat!" „Und so schnell ist es eingetroffen?"
„Dann ist ja doch wahr, was in der Prophezei-
ung steht!"
Ilnd der Pfarrer Neunauge konnte noch so
schön predigen, er brachte den Lichtschimmer, den
das Flugblatt der Sozialdemokraten in die Köpfe
seiner Bauern geworfen hatte, nicht mehr heraus.
Der „Schäfer Thomas" hat die erste Bresche in
den Wall des schwarzen Wahlkreises gelegt; weitere
Sendboten der Aufklärung werden nachrückcn.
D
 
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