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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0260

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2602

den berühmten Breinößl-Garten und restaurirten
für sehr billiges Geld unseren inneren Adam.
Dort lernten wir ein sonderbares Indivi-
duum kennen: einen geborenen Krainer, von
Profession Gerber, welcher im vorjährigen
Kriege zuerst als Tiroler Landesschütze gedient
hatte, dann aber zu Garibaldi desertirt war.
Der Mensch schien einer von denen zu sein,
die der Arbeit „prinzipiell" aus dem Wege
gehen, ununterbrochen im Lande herumvagireu
und das Betteln rationell und mit großem Er-
folg betreiben. Ich sage hier ausdrücklich „das
Betteln" und nicht das Fechten, denn das
„Fechten" des ehrlichen Handwerksburschen, der
die Gutherzigkeit Anderer anspricht, um nach
anderen Gegenden zu gelangen, dort Arbeit zu
suchen, ist etwas Anderes als die Gewohnheits-
bettelei derjenigen, welche das Betteln als Ge-
werbe betreiben. Bezeichnender Weise aber
macht die Polizei keinen Unterschied. Genanntes
Individuum stand schon hoch in den Vierzigen
und erklärte ganz offen, nicht mehr arbeiten zu
wollen. Aber der Kerl konnte in seinem
wunderlichen Deutsch so interessant erzählen,
daß man sich unbedingt angezogen fühlte, ob-
wohl er einem im nächsten Moment wieder eine
Art Grauen einflößte.
Am Montag Früh erhielt unser Hutmacher
seinen Geldbrief auf der Post. Er enthielt
zehn Thaler und die strikte Weisung, auf dem
nächsten Wege nach Hause zn kommen, um im
väterlichen Geschäfte zu arbeiten; in München,
hieß es, solle der Herr Sohn wieder einen Post-
restante-Brief mit Geld vorfinden. Ich erhielt
von dem Gelde drei Gulden für die geleistete
Aushilfe. Das war nicht viel, machte mich
aber momentan reich. Den Bäcker nahm der
Hutmacher mit; sie wollten nach München und
dazu die Eisenbahn benützen. Ich beabsichtigte,
in der Richtung nach Wien weiter zu marschiren,
da ich auch in Innsbruck keine Arbeit finden
konnte. Unser Abschied war kurz, aber herzlich.
Nachdem ich die Hofkapelle mit dem Denk-
mal Andreas Hofers und dem prachtvollen
Grabmal Kaiser Maximilians besichtigt hatte,
begab ich mich in die Jnfanteriekaserne, um
mir von den Soldaten Regietabak zn fechten.
Ich erhielt mehrere Taschen voll — die Sol-
daten „faßten" damals den Tabak noch gratis —
und ich konnte mich nun dem seit mindestens
acht Tagen gänzlich entbehrten Genuß des
Rauchens hingeben. Auf dem Platz vor der
Hofkapelle legte ich mich unter einem der mäch-
tigen Bäume ins Gras und — schlief den Schlaf
des Gerechten. Ein Wachmann weckte mich und
verwies mir das Unpassende, auf der belebtesten
Promenade der Stadt mich schlafen zu legen. In
Preußen wäre ich sicherlich sofort arretirt worden.
An der nächsten Straßenecke begegnete mir
der Krainer. „Bruder", sagte er zu mir, „geh'
mit mir in Pußterthal. Js sich herrliches Landl,
reiche Bauern, viele Fleisch, gute Weine. Nach-
her geh'n wir auf Triest und Venedig." Venedig!
Jugendträume aus der Schulzeit tauchten vor
mir auf. Obwohl mir der Kerl, wie gesagt,
ein gelindes Grauen einflößte, so überwog doch
auf der anderen Seite die Aussicht, mit einem
so gewiegten „Kunden" vielleicht ohne besondere
Anstrengungen und Entbehrungen nach Italien
zn kommen.
Ich schlug ein, holte meinen Berliner und
walzte mit dem alten Landsknecht den Jselberg
hinan. In Schloß Ambras hielten wir kurze
Rast; in den folgenden Tagen ging's über
den Brenner weg. Es wurde damals gerade
die kühn angelegte Brenner-Bergbahn gebaut.
Fast überall traf der alte Stromer Bekannte
unter den Eisenbahnarbeitern, die uns strecken-
weise auf Rollwagen und Materialzügen Mit-
nahmen. In Franzensfeste traf mein Genosse

wieder einen Freund, mit dem er eine lange
Unterredung hatte. Als er sich von demselben
verabschiedet, sagte er zu mir: „Frainderl, heut'
Nacht geh'n wir ins Pußterthal. Weiß ich an
Bauern, wos Hot an Wogen, den wir wern
stehlen für mein Fraind, wos ihn braucht zum
Hamreiseu ins Krainerland mit seiner Familie.
Kriegt jeder von uns zwei Gulden." Dieser
reizende Antrag veranlaßte mich, meinen
„Freund" in die nächste beste Schnapskneipe zu
geleiten, ihn dort unter einem Vorwand sitzen
zu lassen und so schnell, als mich meine Beine
tragen wollten, auszukneifen. Es schüttelte
mich, als ob der Wagen schon gestohlen wäre
und uns der Landjäger bereits am Kragen
hätte, um uns dem „Zuckerhäusl" (Zuchthaus)
zuzuführen.
Ich glaube, ich habe mich von Franzensfeste
bis Sterzing nicht ein einziges Mal umgesehen.
Auch hier machte ich nicht Halt, sondern raste
weiter, immer gen Norden. Auf der nächsten
Station erwischte ich einen Materialzug, der
mich kurz vor Innsbruck erst absetzte. Von
meinem „Freunder!" sah und hört' ich niemals
etwas wieder.
Auch in Innsbruck gönnte ich mir keine
Rast. Ich fürchtete, der krainerische Satan
möchte mit einem der nächsten Züge nachkommen
und sich für meine Flucht an mir rächen. So
wanderte ich denn weiter, über Zierl, nach der
bayerischen Grenze, der Scharnitz zu. Die Kaiser-
stadt Wien hatte ich mir ganz plötzlich auch
aus dem Sinn geschlagen.
Erst angesichts der weiß-blauen Grenzpfühle
gönnte ich mir Ruhe. Von dem erhaltenen
Gelde hatte ich noch über zwei Gulden. Damit
konnte ich gut nach München kommen, ohne
fechten zu müssen. Letzteres hat auch „seine
Mucken" in Bayern. Die bayerische Gen-
darmerie ist sehr „scharf" hinter den harmlosen
Wanderburschen her, speziell um und in München.
In München hoffte ich bestimmt Arbeit zu
bekommen. Allerdings lagen 1867 im ganzen
Süden die Geschäfte fast noch schlimmer dar-
nieder als im Kriegsjahre selbst, und die Land-
straßen wimmelten von arbeitslosen Hand-
werkern, aber immerhin ist in einer Stadt wie
München doch leichter eine Unterkunft zu finden
als in traurigen Provinznestern, wo die Füchse
und Hasen einander Gute Nacht sagen.
Mit fünfzehn Kreuzern in der Tasche traf
ich in München ein. Beim „Krapfenwirth"
im Färbergraben war unsere Herberge. Ich
kannte München schon von meiner Schulzeit
her. War ich doch hier ein Jahr in die Schule
gegangen. Freudig bewegt suchte ich die Spiel-
plätze der damaligen Zeit auf. In den ver-
flossenen elf Jahren hatte sich viel geändert,
München hatte angefangen, Großstadt zu wer-
den. Aber auch in der angehenden Großstadt
gab's keine Arbeit für den einen Schlosser-
gesellen. Es lagen fortwährend zu viel ein-
heimische „alte Feger" auf der Bude. Jeden
Morgen um fünf Uhr kamen Gendarmen in
die Herberge, um die Legitimationen zu prüfen;
die edle Fechtkunst mußte mir so viel einbringen,
um das Nöthigste auf der Herberge bestreiten
zu können. Dazu kam, daß ich mir auf der
Reise jene unangenehme Hautkrankheit geholt
hatte, welche die Aerzte in ihrem Giftmischer-
latein „Loadiss" (Krätze) nennen, und ich mußte
ins Krankenhaus. Nach einer achttägigen Pferde-
kur wurde ich entlassen und mir auf mein An-
suchen ein Gulden fünfundvierzig Kreuzer (ein
Thaler preußisch) Unterstützung eingehändigt.
Noch zwei Tage hielt ich mich in München
auf, dann wandte ich mich westwärts. Wenn
möglich, wollte ich nach Frankreich. In einem
so jugendlichen Kopfe wälzen sich ja allerlei
Pläne. Ueber Fürstenfeld-Bruck rc. marschirte

ich mit noch fünf bis sechs Schlossern Augsburg
zu. Es war iin Ganzen eine fidele Partie.
Auch in der alten Patrizierstadt Augsburg war
nichts los, und so steuerte ich denn mit einem
Kameraden, der mir treu geblieben, Ulm und
Stuttgart zu. * ' *
Vor Kurzem las ich in einer nicht gerade
arbeiterfeindlichen Zeitung eine donnernde
Philippika gegen das Vagabundenthum. In
dem Aufsatz war u. A. auch die Behauptung
enthalten, daß die Mehrzahl der jüngeren reisen-
den Handwerksgesellen aus Uebermuth (!) sich
auf die Wanderschaft begebe und daß deshalb
mit denkbarster Strenge gegen solche Elemente
eingeschritten werden müsse, wenn sie beim
Betteln betreten würden. Die Sache war un-
gefähr so dargestellt, daß das Wandern der
Handwerker heutzutage nicht mehr nöthig sei
und daß deshalb die jungen Gesellen zu Hause
zu bleiben hätten, wenn sie nicht die Mittel be-
säßen, per Eisenbahn reisen zu können. Aber
was sollen denn die Arbeiter anfangen, die in
Zeiten einer Krisis zu Tausenden von den Unter-
nehmern auf die Straße gesetzt werden? Oder
deren Arbeitskraft in Folge der Einführung
neuer Arbeitsmaschinen überflüssig oder doch
auf längere Zeit überzählig wird? Sollen sie
vielleicht in der Stadt, wo ihnen dieses Schicksal
zugestoßen ist, hungernd warten, bis ihnen die
gebratenen Tauben in den Mund fliegen oder
bis sie von den Behörden wegen Mangel an
Subsistenzmitteln als „lästig" abgeschoben wer-
den? Oder sollen sie vielleicht ihre Zuflucht
zu der neuesten Erfindung christlicher Sozial-
reform, zu den vielgepriesenen sogenannten
„Arbeiterkolonien" nehmen?
Zu der Zeit, da ich wanderte, gab es diese
sonderbaren Asyle noch nicht. Aber ich gestehe,
daß wenn es solche schon gegeben hätte, ich
doch wahrscheinlich lieber auf der Landstraße
gestorben wäre, als daß ich mich in eine solche
— Anstalt geflüchtet hätte. Denn nach allen:,
was ich bis jetzt über solche Anstalten gehört
und gelesen, tragen sie keineswegs dazu bei,
das Bewußtsein der Würde in dem Arbeiter
zu heben und zu kräftigen; sie sind vielfach
schlimmer als die Zuchthäuser. Von der Muckerei
und Stöckerei, die in ihnen herrscht, will ich
hier gar nicht reden, auch davon nicht, daß sie
die Löhne der „freien" Arbeiter auf die er-
bärmlichste Weise herunterdrücken.
Das Wandern des jungen Arbeiters in der
Gegenwart geschieht nicht aus Uebermuth, son-
dern es ist eine aus den heutigen ökonomischen
und sozialen Verhältnissen hervorgehende Noth-
wendigkeit, denn die meisten Wanderer reisen
nicht freiwillig, sondern gezwungen. Es bedarf
daher der Gründung strammer Arbeiterorgani-
sationen und des Ausbaues der schon bestehen-
den, ferner einer vernünftigen Regelung der
Arbeitslosen- und Wanderunterstützung, und
wenn die Innungen und Fabrikantenverbände
hierzu beisragen wollten, so wäre dies jedenfalls
anständiger und vernünftiger, als ihr blind-
wüthiges Geschimpfe und ihre Denunziations-
politik gegenüber den Organisationen selbständig
denkender Arbeiter.
Doch zurück zu meinen Memoiren! Der
größere Theil des Schwabenlandes war bald
der Quere nach durchschnitten und Stuttgart
erreicht. Von unserem finanziellen Zustand,
in dem wir dort ankamen, kann sich der Leser
einen Begriff machen, wenn ich ihm sage, daß
wir nicht so viel besaßen, um einkehren oder
gar übernachten zu können. Wir holte» uns
daher das aus sechs Kreuzern bestehende Stadt-
geschenk, welches selbstverständlich nur ausbezahlt
wurde, wenn keine Arbeit da war, und be-
schlossen, uns gar nicht aufzuhalten. So leid
 
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