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Wölfflin, Heinrich
Die klassische Kunst: eine Einführung in die italienische Renaissance — München, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.28845#0113
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RAFFAEL. DIE CAMERA D'ELIODORO

95

Die Sibyllen sind vor einen dunkeln Teppichgrund gesetzt, während
die Tugenden der Jurisprudenz vor hellem blauen Himmel stehen; auch
das ein wesentliches Merkmal des Stilunterschieds.

Die zwei Szenen aus der Rechtsgeschichte, die Übergabe des welt-
lichen und geistlichen Gesetzbuches, interessieren zunächst als Formu-
lierungen eines zeremoniösen Vorganges im Geiste des beginnenden
16. Jahrhunderts, dann aber ist gerade da, wo die Disputa anschliesst,
in überraschendster Weise zu sehen, wie Raffael am Ende der Arbeiten
in der Camera della segnatura breit und ruhig zu werden anfängt und
auch in der Figurengrösse ist er schon weit über den anfänglichen Mass-
stab hinausgewachsen.

Schade, dass der Raum nicht mehr seine alte Holzvertäfelung be-
sitzt. Er würde jedenfalls ruhiger wirken als jetzt mit den weissen Steh-
figuren (in Malerei) an der Brüstung. Es möchte an sich immer etwas
Bedenkliches haben, Figuren unter Figuren zu stellen. Das Motiv wieder-
holt sich in den folgenden Stanzen; man verträgt es aber dort (wo es
auf eine gleichzeitige Anordnung zurückgeht) viel besser, weil diese
Karyatiden in ihrer plastischen Behandlung den ganz malerisch behan-
delten Bildern in entschiedenerem Kontrast sich gegenüberstellen; man
kann sagen, sie machen das Bild erst zum Bild, indem sie es in die
Fläche zurückdrängen. Dieses Verhältnis existiert aber in der ersten
Stanze mit ihrem noch wenig malerischen Stile nicht.

4. Die Camera d’Eliodoro

Nach den Repräsentationsbildern der Camera della segnatura be-
treten wir im zweiten Raum den Saal der Geschichten. Mehr als das:
den Saal des neuen grossen malerischen Stils. Die Figuren sind grösser
in der Dimension und wuchtiger in der plastischen Erscheinung. Es
sieht aus, als ob ein Loch in die Mauer geschlagen sei: aus tiefer dunkler
Höhlung kommen die Figuren hervor und die einrahmenden Bogen-
leibungen sind mit plastisch-illusionären Schatten behandelt. Blickt man
auf die Disputa zurück, so erscheint sie wie ein Teppich, ganz flächen-
mässig und licht. Die Bilder geben jetzt weniger, aber das Wenige
wirkt gewaltiger. Keine künstlichen, fein gefügten Konfigurationen, son-
dern mächtige Massen, die in starken Kontrasten gegeneinander wirken.
Nichts mehr von der halbwahren Zierlichkeit, keine Schaustellung po-
sierender Philosophen und Dichter, dafür viel Leidenschaft-und ausdrucks-
volle Bewegung. Als Raumdekoration mag die erste Stanze höher
 
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