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Wölfflin, Heinrich
Die klassische Kunst: eine Einführung in die italienische Renaissance — München, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.28845#0100
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DIE KLASSISCHE KUNST

schalten können, so würde er auch die Paare der Heiligen zu engeren
Gruppen zusammengeschlossen haben, er würde die Madonna weiter
heruntergezogen und der Versammlung einen massigem Aspekt gegeben
haben. Man kann sich an Ort und Stelle, im Palazzo Pitti nämlich, aufs
beste klarmachen, wie der Geschmack zehn Jahre später entschieden
hätte: man braucht nur den Auferstandenen Fra Bartolommeos mit den
vier Evangelisten zu vergleichen. Das Bild ist einfacher und doch reicher,
differenzierter und doch einheitlicher. Bei dem Vergleiche wird man
auch inne werden, dass der reifere Raffael die zwei nackten Engelknaben,
die vor dem Throne stehen, so reizvoll sie erfunden sind, in diesem
Zusammenhang doch nicht mehr gebracht hätte: es sind schon genug
Vertikalen im Bild, man braucht hier Kontrastlinien und darum sitzen
die Knaben bei Bartolommeo.

3. Die Camera della Segnatura

Es war ein Glück für Raffael, dass ihm in Rom zunächst keine
Aufgaben dramatischer Art gestellt wurden. Er sollte stille Versamm-
lungen ideal gestimmter Menschen malen, Bilder ruhigen Zusammen-
seins, wo alles darauf ankam, erfinderisch in einfachen Bewegungen und
feinfühlig in der Zusammenordnung zu sein. Das war gerade sein Talent.
Jene Empfindung für harmonische Linienführung und Massenabwägung,
die er in den Madonnenkompositionen ausgebildet hatte, durfte er nun
im grossen bewähren. In der Disputa und der Schule von Athen ent-
wickelte er jetzt seine Kunst der Raumfüllung und Gruppenverbindung,
die dann die Basis der späteren dramatischen Bilder abgiebt.

Das moderne Publikum hat Mühe, diesem künstlerischen Inhalt der
Bilder gerecht zu werden. Es sucht den Wert der Darstellungen anders-
wo, in dem Ausdruck der Köpfe, in der gedankenhaften Beziehung
zwischen den einzelnen Figuren. Es will vor allem wissen, was die
Figuren bedeuten und ist beunruhigt, so lange es sie nicht mit Namen
benennen kann. Dankbar horcht der Reisende den Belehrungen des
Führers, der genau zu sagen weiss, wie jede Person heisst, und ist über-
zeugt, nach solcher Aufklärung das Bild besser zu verstehen. Für die
meisten ist die Sache damit überhaupt erledigt, einige Gewissenhafte
aber suchen sich nun in den Ausdruck der Köpfe „hineinzuleben" und
saugen sich an den Gesichtern fest. Wenige kommen dazu, neben den
Gesichtern die Bewegung der Körper im ganzen aufzufassen, für die
Motive des schönen Lehnens, Stehens oder Sitzens sich empfänglich zu
machen und nur ganz wenige ahnen, dass der eigentliche Wert dieser
 
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