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DIE APOKALYPSE

i.

Man muß linienempfindlich sein, um den jungen Dürer zu verstehen. Er
hat auf den bloßen Linienausdruck des Holzschnittes sich beschränken
können, weil alles Wesentliche seiner Formempfindung vollkommen damit
sich sagen ließ. Die ganze Sichtbarkeit setzte sich ihm in Linienbewegung
um. Da gibt es kein Ruhendes und gleichgültig Stilles. Der Baumstamm windet sich
empor, die Rinde umschließt ihn wie mit Polypenarmen, das Gras schießt aus dem Boden,
das saftige Blatt rollt sich, und die Erdwelle wölbt sich sichtbar in stets erneuerter Be-
wegung; selbst in dem toten Stein scheinen die einst wirkenden und bauenden Kräfte
anschaulich zu werden, und was soll man nun erst erwarten von der Zeichnung der
lebendigen menschlichen Form! Es ist gar nicht nötig, daß es bewegte Körper sind:
immer wird diese neue Kunst eine höhere Aktivität zu besitzen scheinen, weil auch die
ruhende Form als Funktion begriffen ist. Verständlich aber, daß sie gerne nach der
wirklichen Bewegung greift. Männerkämpfe, Simson als Löwenwürger, der rasende
Lauf der Rosse — das sind ihr die erwünschten Aufgaben.

Manchmal möchte man sagen, die Zeichnung koche. So sehr sind alle Linien in Wallung
geraten, daß gar nichts still bleibt und bis auf die Blätter im Buche sich alles krümmt
und kräuselt. Es ist eine Manier, die man nirgends als im Holzschnitt findet. Nicht daß
Dürers Formgefühl sonst anders geartet erschiene, aber nur im Holzschnitt erlaubt er
sich die starken Übertreibungen. Er war der Meinung, die derbe Linie des Holzstockes
bedürfe dieser Stilisierung. Selbstverständlich ist damit von vornherein ein großer de-
korativer Reichtum gesichert, allein das ist nicht das Wesentliche: wäre nicht ein neues
und höchst intensives Erleben der Form vorangegangen, so hätte er seine Linien nicht
gefunden. Wie beim jungen Goethe jedes Wort einen sinnlicheren Klang erhält, so
kann man bei Dürer von einer neuen Sinnlichkeit der Linie sprechen, eben weil für sein
Auge die Form überall und unmittelbar eine lebendigere Bedeutung gewann.

Bei Schongauer haben wir die Anfänge, hier steht die Erfüllung. Schongauer zeichnet
bloß mit dem Stichel, Dürer hat sich auch die ungefüge Linie des Holzstockes dienstbar
gemacht, und er ist nirgends großartiger als da, wo er sich ganz primitiv ausdrücken muß.
Dem älteren Nürnberger Holzschnitt gegenüber bedeutet seine Kunst zunächst eine Ver-
einfachung, insofermer alle Erscheinung auf rein linearen Ausdruck zurückführt. Die
Holzschnitte des Schatzbehalters lind der Weltchronik geben ein Feuer, ein Gebüsch,
eine Wolkenmasse nicht streng zeichnerisch; so beschränkt die Mittel sind, sucht man
 
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