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NEUER GRAPHISCHER STIL. DIE KLEINERN PASSIONEN

I .

Italien hatte den Anstoß gegeben, von den Dingen weiter zurückzutreten und die
Form größer zu fassen. Zügige Zeichnungen gibt es schon vor 1505, aber doch
nur bei flüchtiger Ausführung. Sobald auf die Form näher eingegangen wird,
verliert Dürer den zusammenfassenden Blick. Die großgezeichneten und doch
so inhaltsvollen Köpfe zum Heller-Altar wären ohne die italienische Schulung
nicht möglich gewesen, und selbst hier mag man vielleicht schon da und dort, z. B.
in den Händen, eine kleine Rückbildung wahrnehmen gegenüber dem, was in Vene-
dig selbst entstand. Geradlinig konsequente Entwicklungen gibt es überhaupt nicht
bei Dürer.

Die neue Zeichnung ist groß und klar und auf das Notwendige vereinfacht. Die offene
Mache ist ein allgemeines Merkmal der Graphik des 16. Jahrhunderts. Man soll sehen,
wo der erste und wo der letzte Strich sitzt, und soll überzeugt sein, daß gerade so viele
Striche nötig waren und nicht mehr oder weniger. Jener Satz von der Notwendigkeit
als letzter Bestimmung der Schönheit, den L. B. Alberti formuliert hatte, und den man
füglich der Kunst die Hochrenaissance als Motto vorsetzen kann, hat seine Geltung
bis in das Strichgefüge der einzelnen Zeichnung hinein. Daß die Linien an sich eine
dekorative Schönheit besitzen sollen, ist schon gesagt worden, aber gegenüber den
Anfängen dieser Art von Zeichnung führt die Entwicklung zu einer immer größern
Reduktion des Linienmaterials und zu einer immer rationellern Ökonomie in der Ver-
wendung der gegebenen Elemente.

Die Albertina bewahrt die merkwürdige Zeichnung Raffaels, die er Dürer zum Ge-
schenk gemacht hatte: zwei männliche Akte in Rötel. Eigenhändig hat Dürer darauf
notiert, daß Raffael ihm diese nackten Männer geschickt, ihm ,,seine Hand zu wei-
sen“. Dabei die Jahreszahl 1515. Man darf annehmen, es habe dieses Blatt nicht den
ganzen Inhalt der Sendung ausgemacht, wahrscheinlich sind auch Federzeichnungen
dabei gewesen: auf jeden Fall — wenn auch die Naturauffassung der beiden Künstler
eine sehr verschiedene war — in der Technik gehen sie nicht allzuweit auseinander.
Es gibt eine Folge von freien Aktzeichnungen Dürers aus den Jahren 1514, 15, 16,
die sich in der durchsichtigen Mache, dem großen Strich, dem eigentümlichen Rhyth-
mus der Linien und Linienintervalle ganz gut mit Federzeichnungen Raffaels ver-
gleichen lassen1). Beide sind sie eben Cinquecentisten.

Die offenkundigste Wirkung hat die neue Zeichnung auf Holzschnitt und Kupferstich
gehabt. Der Stich entsagt der subtilen Behandlung der Platte aus der Zeit des ,,großen
 
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