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PSYCHOLOGISCHE UND FORMALE ANALYSE DER ARCHITEKTUR

werden. Diese würde auch der Kunstgeschichte erlauben, das einzelne auf ein
allgemeines, auf Gesetze zurückzuführen. Die Psychologie ist zwar weit entfernt
von dem Zustand der Vollkommenheit, wo sie sich der geschichtlichen Cha-
rakteristik als ein Organon anbieten könnte, aber ich halte das Ziel nicht für
unerreichbar.

Man könnte der Idee einer solchen Kunstpsychologie, die vom Eindruck,
den wir empfangen, zurückschließt auf das Volksgefühl, das diese Formen,
diese Proportionen erzeugte, man könnte ihr den Einwurf machen: Schlüsse
der Art seien unberechtigt, Verhältnisse und Linien bedeuteten nicht immer
dasselbe, das menschliche Formgefühl verändere sich.

Der Einwurf ist nicht zu widerlegen, solange man keine psychologische Basis
hat; sobald aber die Organisation des menschlichen Körpers als der bleibende
Nenner bei allem Wechsel erwiesen ist, ist man gegen diesen Schlag gesichert,
indem die Gleichförmigkeit dieser Organisation auch die Gleichförmigkeit des
Formgefühls verbürgt.

Daß weiterhin Stil-Formen nicht von Einzelnen nach Belieben gemacht wer-
den, sondern aus dem Volksgefühl erwachsen, daß der Einzelne nur dann mit
Erfolg schöpferisch tätig sein kann, wenn er untergegangen ist im Allgemeinen,
wenn er den Volks- und Zeitcharakter vollkommen repräsentiert, ist zu all-
gemein bekannt, um noch weiterer Ausführungen zu bedürfen; bleibt aber
auch das Formengefühl seiner Qualität nach unverändert, so darf man doch
die Schwankungen seiner Intensität nicht verkennen. Es hat wenige Zeiten
gegeben, die jede Form rein verstanden, das heißt miterlebten. Es sind nur
die Perioden, die sich ihren eigenen Stil geschaffen haben.

Da aber die großen Formen der Baukunst nicht jedem leisen Wandel des
Volksgemüts nachgeben können, so tritt eine allmähliche Entfremdung ein, der
Stil wird zum leblosen Schema, behauptet sich nur noch durch Tradition. Die
einzelnen Formen werden unverstanden fortgebraucht, falsch verwendet und
so gänzlich abgetötet.

Den Pulsschlag der Zeit muß man anderswo belauschen: in den kleinen
dekorativen Künsten, in den Linien der Dekoration, den Schriftzeichen1 usw.

Hier befriedigt sich das Formengefühl in reinster Weise, und hier muß auch die Geburts-
stätte eines neuen Stils gesucht werden.

Es ist diese Tatsache von großer Wichtigkeit, um den materialistischen Unfug
zu bekämpfen, der die architektonische Formgeschichte aus dem bloßen Zwang
des Materials, des Klimas, der Zwecke glaubt erklären zu müssen. Ich bin
weit entfernt, die Bedeutung dieser Faktoren zu verkennen, muß aber doch

1 Seitdem wir die gegossenen Lettern unserer Druckschrift haben, ist freilich auch hier leichte Be-
weglichkeit verschwunden. Man hat sich heutzutage daran gewöhnt (in der üblichen Schrift) gothischen
Minuskeln barocke Majuskeln vorzusetzen. Vgl. Bechstein, Die deutsche Druckschrift, 1885.

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