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Wölfflin, Heinrich [Gefeierte Pers.]; Wolters, Paul [Mitarb.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0031
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KARL VOSSLER: SPRACHE UND NATUR

UNABHÄNGIG vom sprachlichen Denken haben sprachliche Lautformen keinen leben-
digen Sinn. Denkform und Lautform sind wie Kern und Schale einer Frucht, wie
Seele und Leib eines Menschen, wie Geist und Natur miteinander verwachsen und auf-
einander angewiesen. Wenn es z. B., wie ich glaube gezeigt zu haben, eine sinnvolle Denk-
geschichte des Vulgärlatein gibt, so muß auch, wenigstens theoretisch, eine sinnvolle Laut-
geschichte derselben Sprache möglich sein1). Ob eine solche sich praktisch rekonstruieren
und in überzeugender, einleuchtender Lebendigkeit darstellen läßt, dies freilich bleibt
zweifelhaft und hängt nicht allein vom Feingefühl und von der Schulung des sprach-
lichen Lauthistorikers, sondern einigermaßen auch von der Fülle und Zuverlässigkeit des
urkundlichen Materiales ab. Die vulgärlateinische Lautschrift der früheren Jahrhunderte
ist roh, lückenhaft, spärlich und willkürlich. Genauere, unmittelbare Phonogramme be-
sitzen wir erst von den romanischen Sprachen und Mundarten der Gegenwart. Es verhält
sich hier ähnlich wie mit menschlichen Bildnissen. Die geistige Persönlichkeit, die Gesin-
nung und Denkart eines Plato oder Cicero stehen verhältnismäßig klar und sprechend
vor uns, wie aber der Leib aussah, in dem ihre Seele gewirkt hat, das wird wohl immer
ein Geheimnis bleiben.

Ob der Wunsch, den Plato leibhaftig zu sehen, überhaupt noch als wissenschaftlicher Er-
kenntniswille gelten darf, oder nicht vielmehr als materialistische Neugierde eines Wachs-
kabinettenbesuchers zu verlachen ist, lassen wir dahingestellt. Wir wollen auch über das
Bedürfnis nicht rechten, das den künstlerisch veranlagten Menschen wohl immer wieder
dazu treiben wird, in Ermangelung des leibhaftigen Plato, sich ahnend, träumend und
schaffend ein Bild, ein Denkmal oder Symbol von ihm in Erz oder Marmor zu gestal-
ten, etwa ähnlich wie die religiös gerichtete Sinnlichkeit der Gläubigen nicht müde wird,
nach greifbaren, farbigen und immer sprechenderen Bildern von Jesus Christus und
seiner Mutter zu verlangen: so oft, so stark, bis Übersättigung, Enttäuschung und Zwei-
fel sich einstellen und der Geist, angeekelt von den trügerischen Äußerlichkeiten seines
eigenen göttlichen Wesens sich zu den inneren Formen dieses Wesens zurückwendet.
Wir sind uns, glaube ich, nicht recht klar, ob in den Versuchen, den Lautkörper einer
entschwundenen Sprache zu rekonstruieren, oder den einer gegenwärtigen mechanisch zu
fixieren, nicht doch etwas Pseudowissenschaftliches spukt, nicht einige dilettantische Neu-
gier oder artistische Geilheit oder naturalistischer Aberglaube. Wem ist, wenn er über
phonetischen Studien, Experimenten oder gar Spekulationen saß, nicht schon ein unver-
haltbares Gähnen oder herzhaftes Lachen aufgeblüht? Vielleicht eine leise Mahnung sei-
ner Vernunft, daß er ein Grenzgebiet bebaut, wo das wissenschaftliche Interesse zu ent-
arten droht? Wie oft ist die Forschung nicht schon dem Schwindel verfallen, wenn sie im
Vertrauen auf eine schöne Harmonie zwischen Seele und Leib, Geist und Natur, aus der
äußeren Erscheinung die innere Meinung herauslesen wollte. Graphologie, Chiromantie,
Schädellehre sind verdächtige Wissenschaften, und die Phonetik hat sich bis jetzt nur
dadurch in Ehren halten können, daß sie auf die Frage nach den Zusammenhängen zwi-
schen Denkart und Sprechart der Menschen stumm blieb.

') Vgl. meinen Aufsatz über neue Denkformen im Vulgärlatein in der Festschrift für Ph. Aug. Becker,
Heidelberg 1922. — Ober die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Laut- und Aussprachegeschichte
des Französischen vgl. das Nachwort zu der Neuauflage meines Buches „Frankreichs Kultur im Spiegel
seiner Sprachentwicklung“, Heidelberg 1921, S. 375—379.
 
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