ALFRED STANGE: JORG RATGEB
ZUGLEICH EIN BEITRAG ZUR VERARBEITUNG ITALIENISCHER FORMMITTEL
IN DEUTSCHLAND
Jörg Ratgeb hat den Siegeszug der anderen deutschen Maler seiner Zeit nicht mitge-
macht. Seit den vor mehr denn einem Menschenalter veröffentlichten Forschungen
Donners von Richter1) ist wohl über den Verlauf seines Lebens2) manches bekannt ge-
worden, konnte die Zahl seiner Werke vermehrt werden, im Ganzen blieb Ratgeb doch
unbeachtet. Zum Herrenberger Altarwerk (1519) in der Stuttgarter Altertiimersamm-
lung, den Bildnissen des Claus Stalburg und seiner Gemahlin Margarete3) im Städel-
schen Institut und den wenigstens in Nachzeichnungen erhaltenen Malereien im Frank-
furter Karmeliterkloster (seit 1514) ließen sich ein kleiner Flügelaltar in der Pfarrkirche
zu Schwaigern (signiert I M R 1510), eine Anbetung der Könige und ein Kopf Johan-
nis, wohl der Rest einer Beweinung, auf Schloß Lichtenstein hinzufügen4). Aber außer
diesen vereinzelten Beiträgen und Hinweisen wurde nirgends eine eingehendere Würdi-
gung seiner Kunst versucht. Sonderlich seine künstlerische Abstammung und sein Ver-
hältnis zu Italien blieben ununtersucht. Das ist um so erstaunlicher, als gerade sein Ein-
>) Otto Donner von Richter, Jerg Ratgebs Wandmalereien in dem Karmeliterkloster zu Frankfurt a. M.
und sein Altarwerk in der Stiftskirche zu Herrenberg. Frankfurt 1892. Von demselben schon vorher
im Deutschen Kunstblatt II (1882), Nr. 1—4, und der Artikel über Ratgeb in der Allgemeinen Deutschen
Biographie Bd. 27 (1888).
2) Eugen Schneider in den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landesgeschichte III (1883), S. 263,
und N. F. X (1901), S. 403, 407. Moriz von Rauch daselbst N. F. XVIII (1909), S. 211.
3) Freilich kann die Zuschreibung der beiden Bildnisse an Ratgeb, die allein auf dessen Beziehungen zu
Claus Stalburg fußt, nicht als völlig gesichert gelten, dann aber fordert die auf dem Rahmen ange-
brachte Jahreszahl 1504 die größten Bedenken heraus. In der Frische, mit der dieses ungewöhnliche neue
Thema, (fast) lebensgroße stehende Porträts zu malen, angepackt ist, wie keine traditionellen Schranken
beachtet und wie in einer ganz neuen Weise zwei Menschen in voller Größe und Individualität — selbst-
bewußt und jugendlich hochmütig — hingestellt sind, darin läßt sich vielleicht ein ähnliches Tempera-
ment wie im Herrenberger Altar erkennen. Auch die dünne Malweise, die glatten, wenig modellierten
Gewänder, der betonte Kontur erinnern an diesen. Aber die Aufschrift mit der Jahreszahl 1504, die,
wie auch Weizsäcker (Katalog der Gemäldegalerie des städtischen Kunstinstitutes zu Frankfurt von 1900,
S. 269) angibt, mit den jetzigen Rahmen bei dem Verkauf des Altares 1788 erneuert ist, scheint neben
dem 1510 datierten Schwaigerner Altar, der sich als das Werk eines noch jungen Künstlers darstellt,
ganz unmöglich. Vielleicht hieß die Jahreszahl ursprünglich 1514. So würde sie sich der Entwicklung
Ratgebs besser einfügen und gut zu der Tatsache passen, daß Claus Stalburg in dem großen Bilder-
zyklus Jörg Ratgebs im Karmeliterkloster als erster 1514 eine Anbetung der Könige gestiftet hat. Diese
Annahme, daß Stalburg die beiden Aufträge im gleichen Jahr an Ratgeb ausgegeben hat, erscheint
plausibler als die andere, daß zehn Jahre zwischen den beiden Aufträgen liegen, zumal wir keinen An-
haltspunkt dafür haben, ob Ratgeb 1504 überhaupt in Frankfurt war. Auch dann noch zählen diese
beiden Bildnisse mit den gleichzeitigen Bildnissen Herzog Heinrichs des Frommen und seiner Gemahlin
Katharina von Lucas Cranach (Dresden) zu den ersten lebensgroßen in der neuen Malerei.
Ratgebs unmittelbarem Schulkreis gehören zwei Tafeln in der Sammlung Figdor, Wien — ein Abendmahl
und ein Passahmahl, Mittelbild und Flügel eines Altares — an. Bildaufbau und Typik sind die von
Ratgebschen Bildern bekannten, doch ist der Ausdruck im ganzen derber, bäurischer, die Proportionen
gedrungener. Weiterhin, beide Darstellungen vereinend, eine Tafel, die das gleiche Signum, auf dem
Fußboden verstreute Maiglöckchen, zeigt. Sie war Sommer 1922 im Besitze der Kunsthandlung Späth
in München. Nach der Architektur zu urteilen, dürfte sie etwas später entstanden sein; in der Form-
behandlung ist sie handwerksmäßiger als die Wiener Bilder und entfernt sich mehr als diese von Ratgeb.
4) Marie Schuette, Der Schwäbische Schnitzaltar, Straßburg 1907, S. 159. Julius Baum in der Frank-
furter Zeitung vom 10. Mai 1908 und dem Schwäbischen Merkur vom 29. Juli 1910.
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ZUGLEICH EIN BEITRAG ZUR VERARBEITUNG ITALIENISCHER FORMMITTEL
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Jörg Ratgeb hat den Siegeszug der anderen deutschen Maler seiner Zeit nicht mitge-
macht. Seit den vor mehr denn einem Menschenalter veröffentlichten Forschungen
Donners von Richter1) ist wohl über den Verlauf seines Lebens2) manches bekannt ge-
worden, konnte die Zahl seiner Werke vermehrt werden, im Ganzen blieb Ratgeb doch
unbeachtet. Zum Herrenberger Altarwerk (1519) in der Stuttgarter Altertiimersamm-
lung, den Bildnissen des Claus Stalburg und seiner Gemahlin Margarete3) im Städel-
schen Institut und den wenigstens in Nachzeichnungen erhaltenen Malereien im Frank-
furter Karmeliterkloster (seit 1514) ließen sich ein kleiner Flügelaltar in der Pfarrkirche
zu Schwaigern (signiert I M R 1510), eine Anbetung der Könige und ein Kopf Johan-
nis, wohl der Rest einer Beweinung, auf Schloß Lichtenstein hinzufügen4). Aber außer
diesen vereinzelten Beiträgen und Hinweisen wurde nirgends eine eingehendere Würdi-
gung seiner Kunst versucht. Sonderlich seine künstlerische Abstammung und sein Ver-
hältnis zu Italien blieben ununtersucht. Das ist um so erstaunlicher, als gerade sein Ein-
>) Otto Donner von Richter, Jerg Ratgebs Wandmalereien in dem Karmeliterkloster zu Frankfurt a. M.
und sein Altarwerk in der Stiftskirche zu Herrenberg. Frankfurt 1892. Von demselben schon vorher
im Deutschen Kunstblatt II (1882), Nr. 1—4, und der Artikel über Ratgeb in der Allgemeinen Deutschen
Biographie Bd. 27 (1888).
2) Eugen Schneider in den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landesgeschichte III (1883), S. 263,
und N. F. X (1901), S. 403, 407. Moriz von Rauch daselbst N. F. XVIII (1909), S. 211.
3) Freilich kann die Zuschreibung der beiden Bildnisse an Ratgeb, die allein auf dessen Beziehungen zu
Claus Stalburg fußt, nicht als völlig gesichert gelten, dann aber fordert die auf dem Rahmen ange-
brachte Jahreszahl 1504 die größten Bedenken heraus. In der Frische, mit der dieses ungewöhnliche neue
Thema, (fast) lebensgroße stehende Porträts zu malen, angepackt ist, wie keine traditionellen Schranken
beachtet und wie in einer ganz neuen Weise zwei Menschen in voller Größe und Individualität — selbst-
bewußt und jugendlich hochmütig — hingestellt sind, darin läßt sich vielleicht ein ähnliches Tempera-
ment wie im Herrenberger Altar erkennen. Auch die dünne Malweise, die glatten, wenig modellierten
Gewänder, der betonte Kontur erinnern an diesen. Aber die Aufschrift mit der Jahreszahl 1504, die,
wie auch Weizsäcker (Katalog der Gemäldegalerie des städtischen Kunstinstitutes zu Frankfurt von 1900,
S. 269) angibt, mit den jetzigen Rahmen bei dem Verkauf des Altares 1788 erneuert ist, scheint neben
dem 1510 datierten Schwaigerner Altar, der sich als das Werk eines noch jungen Künstlers darstellt,
ganz unmöglich. Vielleicht hieß die Jahreszahl ursprünglich 1514. So würde sie sich der Entwicklung
Ratgebs besser einfügen und gut zu der Tatsache passen, daß Claus Stalburg in dem großen Bilder-
zyklus Jörg Ratgebs im Karmeliterkloster als erster 1514 eine Anbetung der Könige gestiftet hat. Diese
Annahme, daß Stalburg die beiden Aufträge im gleichen Jahr an Ratgeb ausgegeben hat, erscheint
plausibler als die andere, daß zehn Jahre zwischen den beiden Aufträgen liegen, zumal wir keinen An-
haltspunkt dafür haben, ob Ratgeb 1504 überhaupt in Frankfurt war. Auch dann noch zählen diese
beiden Bildnisse mit den gleichzeitigen Bildnissen Herzog Heinrichs des Frommen und seiner Gemahlin
Katharina von Lucas Cranach (Dresden) zu den ersten lebensgroßen in der neuen Malerei.
Ratgebs unmittelbarem Schulkreis gehören zwei Tafeln in der Sammlung Figdor, Wien — ein Abendmahl
und ein Passahmahl, Mittelbild und Flügel eines Altares — an. Bildaufbau und Typik sind die von
Ratgebschen Bildern bekannten, doch ist der Ausdruck im ganzen derber, bäurischer, die Proportionen
gedrungener. Weiterhin, beide Darstellungen vereinend, eine Tafel, die das gleiche Signum, auf dem
Fußboden verstreute Maiglöckchen, zeigt. Sie war Sommer 1922 im Besitze der Kunsthandlung Späth
in München. Nach der Architektur zu urteilen, dürfte sie etwas später entstanden sein; in der Form-
behandlung ist sie handwerksmäßiger als die Wiener Bilder und entfernt sich mehr als diese von Ratgeb.
4) Marie Schuette, Der Schwäbische Schnitzaltar, Straßburg 1907, S. 159. Julius Baum in der Frank-
furter Zeitung vom 10. Mai 1908 und dem Schwäbischen Merkur vom 29. Juli 1910.
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