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Wolters, Paul [Mitarb.]; Wölfflin, Heinrich [Gefeierte Pers.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0249
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HANS ROSE: NIKODEMUS TESSIN DER JÜNGERE UND DER
NEUBAU DES SCHLOSSES VON STOCKHOLM

WER kunsthistorische Begriffe bildet, wird in der Regel formale Typen aufsuchen, die
sich im geschichtlichen Zusammenhang als extreme Stiläußerungen zu erkennen
geben. Denn aus der Verbindung von Begriffsbildung und Typenbildung empfangen die
Begriffe, mit denen wir operieren, jene Klarheit, um derentwillen der ganze Denkvorgang
unternommen wird, und den weiten Geltungsbereich, der es ermöglicht, die Begriffe perio-
disch in Anwendung zu bringen, in dem gleichen Maße, wie eben typische Dinge periodisch
wiederkehren. Sobald aber ein Begriff geformt ist und das gedankliche Gerüst sich als
tragfähig erwiesen hat, wird man gut daran tun, die Methode gelegentlich umzukehren, d. h.
den am Typus gewonnenen Begriff wieder auf den Einzelfall zurückzubeziehen, auf Denk-
mäler, deren Stildifferenz gering ist: Kunstwerke mit einander zu vergleichen, die örtlich
und zeitlich benachbart sind, die von gleicher Hand stammen oder gar als Variation eines
gegebenen künstlerischen Themas zu verstehen sind. Dieser letztere, stilpsychologisch höchst
aufschlußreiche Fall liegt vor zwischen dem Schloßbau Tessins des Jüngeren in Stockholm
und seinem römischen Urbild, dem Louvreprojekt Lorenzo Berninis: ein zeitlicher Abstand
von ungefähr dreißig Jahren, der die Grenzscheide zwischen Hochbarock und Spätbarock
überbriickt; die gleiche künstlerische Idee, die in der römischen Tradition wurzelt und kaum
merklich beeinträchtigt wird durch die Tatsache, daß wir aus dem Zentrum der Welt an
die nördliche Peripherie gerückt sind. Dazu die Verwirklichung eines Idealprojektes, das
sich für Rom und Paris als zu groß erwiesen hatte und dem das schwedische Volk in
mehr als sechzigjähriger Bauzeit seine besten Kräfte geopfert hat, unbeirrt von dem Um-
stand, daß schon im Baubeginn ein dekorativer Stil von Europa Besitz ergriffen hatte, der
das römische Pathos haßte und nichts erbitterter bekämpft hat, als eben diese Idee des
römischen Stadt- und Würfelpalastes. Aber die Geschichte läßt sich in ihrem Lauf so
wenig hemmen, wie die Zeit selbst. Es gibt Stilwandlungen, gegen die ein konservativer
Wille, selbst wenn er vom sittlichen Standpunkt der edlere gewesen sein mag, nichts aus-
zurichten imstande ist. Und so hat die eminent positive Leistung Tessins, das Bernin ische
Projekt verwirklicht zu haben, ihre Kehrseite in der stilkritischen Erwägung, wie weit das
Werk eben doch epigonenhaft ausfiel, und sei es durch den Mangel an originalen Trieb-
kräften, sei es infolge eines historischen Verhängnisses gewisse dekorative Stilelemente in
sich aufnahm, die an der ursprünglichen Idee zehren. Daß der Königspalast von Stock-
holm zum Gewaltigsten gehört, wozu der menschliche Wohnbau sich unter günstigen Um-
ständen zu erheben vermag, besteht als künstlerische Ahnung bei jedem, der das Gebäude
kennt und für baukünstlerische Eindrücke empfänglich ist (Abb. 1). Aber die Geschichts-
schreibung hat sich nur zögernd an das Denkmal herangewagt. Mehr geachtet als geliebt
scheint es sich der historischen Kritik zu verschließen, und zwar aus Ursachen, die in der
Barockforschung selbst und ihrer inneren Gesetzmäßigkeit begründet sind. Denn die Ge-
schichte des römischen Palastbaues, die von Heinrich Wölfflin so tatkräftig in die Wege
geleitet worden ist, schritt in Bezug auf das 17. Jahrhundert nur langsam vorwärts, so
daß erst neuerdings Berninis Louvreprojekt als ideale Höchstleistung des römischen Ba-
rock und das Schloß von Stockholm als späte Verwirklichung Berninischer Ideen haben
begriffen werden können. Ich weiß nicht, ob man den Tessinschen Bau zu den festlichen
Architekturen rechnen darf. Vielleicht verlangt gerade der nordische Mensch, der den
Phantasie-Inhalt der Bauwerke höher zu schätzen pflegt als die Schönheit der körperlichen
 
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