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Wölfflin, Heinrich [Gefeierte Pers.]; Wolters, Paul [Mitarb.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0050
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46

Zum Problem der Form beim Märchen

Elemente, die einer Dichtung ihre Schönheit geben, schaffen späteren Geschlechtern neue
Schönheiten und Vollendungen.

Die Entwicklung der Dichtung im Künstler selbst bestätigt unsere Ansicht. Was als voll-
endetes Werk vor uns steht, ist eine strenge und oft schmerzliche Wahl aus einem oft
unendlichen Reichtum von Erfindungen, Einfällen, Entwürfen, Visionen. Zuerst schließen
sie sich traumhaft leicht und reich verlockend aneinander, wie die Wunder eines Märchens.
Wieviel von dieser zauberischen Kraft verschwindet, wieviel bildet sich um, verliert den
Schmelz der Jugend, den ersten Morgenglanz der Schönheit, wieviel bleibt Entwurf und
Fragment und findet nicht die ihm vorbestimmte Form, wie gering, von außen gesehen,
ist im Vergleich mit dieser verschwenderischen Fülle das Werk, das dem Dichter ganz
gelingt! Manchmal, und gerade bei den größten Dichtungen, wirkt die Form wie ein
Notbehelf oder wie eine Entscheidung, vielen Möglichkeiten mühsam abgerungen, Mög-
lichkeiten, die sich immer anders gestalteten und verflochten. Die Mächte, die an ihr
schufen, scheinen dann oft größer als die Dichtung selbst. Man denke an die Wand-
lungen von Goethes Urfaust zum Fragment und zum vollendeten Faust und an die Para-
lipomena und Entwürfe und an Goethes Bekenntnisse über den Faust, oder man denke an
die Wandlungen des Wilhelm Meister.

Unsere nächste Aufgabe wäre die Bestimmung der Gesetze im einzelnen, nach denen die
Motive und Motivreihen der Märchen und der verwandten volkstümlichen Gattungen sich
formen, umformen, sich anziehen und abstoßen, sich fortsetzen und abbrechen. Das ist
aber eine noch zu verwickelte Arbeit. Sie ist auch kein Problem der Form allein. Die
Verschiedenheit der Zeiten und Völker, geschichtliche, soziologische, literarische Bedin-
gungen wirken an entscheidenden Stellen mit. Auch die von uns besprochenen Bildungen
und Umbildungen gehen ja nicht ganz rein in die Geschichte der Form auf, wie hier
nur kurz betont sei.

Aus einem großen Komplex von Fragen haben wir einige herausgegriffen und hin und
her gewendet. Diese Hinweise sollen bescheidene Vorläufer sein von umfassenderen Unter-
suchungen über Wesen und Ursprung der Dichtung. Ihre Absicht ist wohl kenntlich. Bei
Untersuchungen über das Wesen der Dichtung und der Form beschränkt man sich, wie
ich glaube, noch immer viel zu oft auf das vollendete Werk. Ein Gang in die Welten
des Anfangs und in die Welten der niederen volkstümlichen Gattungen ist aber auch hier
unerläßlich. Er führt zu Erkenntnissen über Entwicklungsmöglichkeiten und -Wirklich-
keiten der Form und der Dichtung und damit zu Erkenntnissen über ihre Lebensbedin-
gungen, die sich sonst nicht gewinnen lassen; er führt auch zum Mutterboden und zum
ersten Wachstum der Dichtung, und endlich zu den Gesetzen und zur Weltgeschichte
ihrer Wirkung.
 
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