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Wölfflin, Heinrich [Gefeierte Pers.]; Wolters, Paul [Mitarb.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0051
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FRITZ STRICH: DIE ROMANTIK ALS EUROPÄISCHE BEWEGUNG

ES gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses schillernden Wortes: Romantik, daß sein
Klang schon die Erinnerung an deutsches Wesen, deutsche Landschaft, Geschichte
und Dichtung weckt. Der Inbegriff der deutschen Seele scheint hier in ein sprachliches
Symbol gebannt zu sein. Aber das Wort kommt aus der Fremde und wurde noch im
17. Jahrhundert ganz identisch mit „romanisch“ angewendet. Romanische Formen, Sonette,
Terzinen, Kanzonen, wurden von der deutschen Romantik gerade kultiviert und romanische
Meister von ihr verehrt und nachgebildet: Dante, Ariost, Cervantes, Calderon. Auch vergißt
man leicht, daß die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs nur eine deutsche
Bewegung war, sondern sich über ganz Europa, Frankreich (Chateaubriand, Lamartine,
Viktor Hugo, Müsset, Stendhal), England (S£ott, Byron, Shelley, Keats, Wordsworth, Co-
leridge), Italien (Manzoni, Leopardi), Dänemark und Skandinavien (Oehlenschläger,
Steffens, Grundwig, Ingemann), Rußland (Karamsin, Schukowski, Puschkin, Lermontoff),
Polen (Mickiewicz) ausdehnte.

Aber trotz des fremden Namens und der europäischen Ausdehnung hat die Romantik doch
ein Recht, als eine germanische und besonders deutsche Erscheinung angesehen zu werden.
„Romanisch“ hieß ja ursprünglich das volkstümlich nationale Element der französisch-
italienisch-spanischen Kultur im Gegensatz zur lateinisch-klassischen Bildung, dem Erbe
der Antike, hieß also in Wahrheit der germanische Bestandteil des romanischen Blutes,
das unantike Element in ihm oder wenigstens doch die Mischung, welche aus der Ver-
bindung des antiken mit dem germanischen Blut und Geist entstanden war. Es war der
aus dieser Mischung hervorgegangene, phantastische und irrationale Charakter eines Ariost,
den man im 17. Jahrhundert romantisch nannte. Im achtzehnten aber verlor sich die
romanische Bedeutung des Wortes schon so ganz, daß schon zu Lessings Zeiten eine
Landschaft romantisch hieß, welche sich mit gebrochenen Linien und malerischem Licht,
idyllischer Stimmung oder schmerzlicher Einsamkeit nicht an die Vernunft, sondern an
das reine Gefühl, Erinnerung und Sehnsucht weckend, wendete. Von hier aus ging das
Wort dann auf ein Kunstwerk oder eine Dichtung über, welche sich von den Regeln des
französischen Klassizismus befreite, und es wird dann immer deutlicher, wie sich im Be-
griff der Romantik allmählich alles sammelte, was im Gegensatz zu dem französischen
Klassizismus stand, und der romantische Geist sich an diesem Gegensätze seiner selbst
bewußt wurde. Goethe stellte der französischen Baukunst die gotische als die eigentlich
deutsche entgegen. Der Sturm und Drang fand in Shakespeare den Gegenpol zu Corneille,
Racine und Voltaire. Schiller entwickelte aus dem Unterschied der französischen und
englischen Gartenkunst die prinzipielle Verschiedenheit von architektonischer und male-
rischer Form, Regel und Freiheit, Vernunft und Phantasie. Wilhelm von Humboldt stellte
in seinen „Briefen über deutsche und französische Schauspielkunst“ zwei nationale und
prinzipiell verschiedene Kunstcharaktere fest: in Frankreich die Orientierung an der bil-
denden Kunst, der Plastik, die Vorherrschaft der Schönheit in Geste, Haltung, Gruppe,
Rhythmus und Deklamation, die restlose Umsetzung alles innerlichen Gefühls in das äußere
„Zeichen“, in Deutschland aber der Sieg des Ausdrucks über die reine Form, des leiden-
schaftlichen Gefühls über die bändigende Vernunft, die Verachtung des „Zeichens“ für die
Sache. Auch umgekehrt wurde sich der französische Geist an seinem Gegensatz zum
deutschen seiner selbst bewußt. Das Buch der Frau von Stael „De l’Allemagne“, welches
die deutsche Romantik nach Frankreich hin vermittelte und eine neue Epoche Frankreichs
 
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