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Wölfflin, Heinrich [Gefeierte Pers.]; Wolters, Paul [Mitarb.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0052
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Die Romantik als europäische Bewegung

einleitete, fand den grundlegenden Unterschied der beiden feindlichen Nationen darin, daß
Frankreichs Kultur ganz auf dem Grundsatz der Gesellschaft ruhe, Deutschland aber die
Kultur der Einsamkeit, der einzelnen in sich gekehrten Individualität besitze. Daher denn
dort die Herrschaft der allgemeingültigen und einen Vernunft, hier aber die des subjektiven
Gefühls und besonders der Religion. Dort die Konvention entscheidend, Mode, Sitte, und
die Geltung aller gesellschaftlichen Werte: Geist, Schönheit, Anmut, Witz, Geschmack und
Ruhm. Hier aber Tiefe des Gefühls, Kraft der Phantasie, Wärme des Gemütes. Dort in
der Kunst die Gültigkeit, ja Heiligkeit allgemeiner, bindender Regeln, hier aber gesetzlose
Freiheit der genialen Individualität. Dort eine von der Akademie festgelegte Sprache, hier
auch die Sprache freier Ausdruck der Persönlichkeit. —

Was nun die europäische Ausdehnung der Romantik betrifft, so ist gewiß noch jede
geistige Strömung, ein jeder Stil über die Grenzen einer Nation hinausgegangen und
wurde allgemeiner Zeitstil. Aber die Frage ist, wo der Ursprung und die Führung einer
Bewegung liegt. Man kann bemerken, daß immer, wenn in der europäischen Kultur der
neueren Zeit ein Drang nach klassischer Gestalt und Form lebendig wurde, dann Frank-
reich zur Verwirklichung solchen Stiles führte. Dies gilt für Deutschland ganz besonders.
Denn nie vermochte deutscher Geist allein aus sich heraus sich klassisch zu gestalten.
Die klassische Form der mittelhochdeutschen Blütezeit kam von Frankreich. Gottscheds
Klassizismus, der den Barock überwand, folgte sklavisch den Spuren Frankreichs, und
auch Goethe und Schiller arbeiteten sich mit Hilfe des französischen Dramas aus dem
formlosen Sturm und Drang ihrer Jugend zur Reife des klassischen Stiles hin. Sie über-
setzten Voltaire und Racine, führten sie auf und lernten von ihnen für ihre eigenen
Schöpfungen die Symmetrie, Geschlossenheit und schöne Haltung. Aber auch die ger-
manischen Völker sonst, England, Dänemark, Skandinavien stehen in ihren klassizistischen
Epochen ganz im Banne und Zeichen Frankreichs, man denke nur an Pope, Addison,
Dryden, und auch Italien und Rußland folgen ihm in solchen Zeiten. Frankreich ist das
Land des Klassizismus, das unromantische Volk an sich.

Man wende nicht ein, daß doch gerade Frankreich mit seiner großen Revolution den
Anstoß auch zur deutschen Romantik gegeben habe. Gerade diese Revolution mit ihrem
Ziele absoluter Gleichheit der Gesellschaft ist Beweis für diesen Nationalcharakter. Ihr
Prinzip war die Vernunft, und sie betete zur Göttin der Vernunft. Es ist denn auch
höchst bezeichnend, daß der Stil der französischen Revolution, ihrer Männer und
Werke, der Stil ihres Kostüms, ihrer Gesten und Sprache durchaus klassizistisch war
und sich nach dem Vorbild der antiken, römischen Republik richtete. Die deutsche
Romantik konnte wohl von dem revolutionären Geist an sich entzündet werden, aber
ihr Weg und Ziel hatte mit der französischen Revolution innerlich gar nichts zu tun,
im Gegenteil, sie war eine Revolution gegen die französische. Sie entthronte gerade die
Göttin der Vernunft.

Die europäische Bewegung der Romantik hat ihren Ursprung in Deutschland und ver-
breitete sich von hier aus über die Länder Europas, so wie sich der Klassizismus von
Frankreich aus über Europa breitete. Bürgers Lenore, in alle Sprachen übersetzt, gab
den Anstoß zu der europäischen Gespensterdichtung. Es ist hierbei besonders auffällig,
daß keineswegs nur die deutsche Romantik, sondern gerade auch die deutsche Klassik,
Goethe und Schiller, auf die europäischen Nationen romantisierend und als Romantik
 
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