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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Tumarkin, Anna: Ästhetisches Ideal und ethische Norm
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0175
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ÄSTHETISCHES IDEAL UND ETHISCHE NORM. 171

umso besser für mich. Jede objektive Wertung aber, die ästhetische
so gut wie die ethische, rechnet mit dem Urteil der anderen. Der
sinnliche Selbsterhaltungstrieb ist befriedigt, sobald die gewünschte
Wirkung auf meinen Organismus stattgefunden hat; die ideelle Selbst-
bejahung, auf der die ästhetische Wertung beruht, geht über die indivi-
duelle Zustimmung im subjektiven Zustand hinaus und fordert allge-
meine Anerkennung, objektive Geltung.

Daher, durch die in der Einfühlung liegende Selbstbejahung be-
dingt, jene Eigentümlichkeit des ästhetischen Urteils, auf die Kant zum
ersten Male hingewiesen hat: neben der Unmittelbarkeit und Freiheit
der ästhetischen Beurteilung die Forderung ihrer allgemeinen Gültig-
keit und daher auch, auf der Seite des Künstlers, das Bedürfnis, die
Art, wie er die Welt ästhetisch sieht und erlebt, auch anderen mitzu-
teilen, seine Gestalten nicht bloß selbst zu schauen, sondern sie auch
anderen greifbar hinzustellen, nicht zu ruhen, bis er seine Konzeption
auch äußerlich realisiert vor sich sieht.

So bringt es die Einfühlung nebst der in ihr liegenden Selbstbe-
jahung mit sich, daß die ästhetische Wertung zwar nicht den norma-
tiven Charakter der ethischen Wertung hat, aber doch eine ebenso
objektive Wertung ist wie diese. Weil die ästhetische Wertung auf
Einfühlung beruht, ist sie objektive und doch zugleich unmittelbare
Wertung, und deshalb hat ihr Objekt seinen Wert weder vom Zweck,
dem es dient, noch von der Norm, auf die es bezogen wird, sondern
trägt ihn in sich selbst; es ist wertvoll, weder als Gegenstand des
Genusses noch als Gegenstand einer normativen Beurteilung, sondern
als ein in sich vollendetes und realisiertes Ideal. Jeder Gegenstand
der ästhetischen Betrachtung trägt seinen Wert in sich selbst, er ist,
sobald er jene Wirkung veranlaßt, welche wir die ästhetische nennen,
in seiner Art vollkommen, er läßt keine Wertunterschiede zu; der ästhe-
tischen Ideale sind unendlich viele, und zwar nicht nur für verschiedene,
sondern für denselben Betrachter, der nacheinander die verschiedensten
ästhetischen Eindrücke empfangen kann. Die ethische Norm hingegen
ist jeweilen in demselben Bewußtsein nur eine, und nach ihr werden
alle ethischen Werte bemessen; eine Stufenreihe von Werten, deren
Richtung die Norm angibt, deren letzte Stufe aber nirgends gegeben
ist. Ein realisiertes sittliches Ideal wäre ein Widerspruch in sich selbst;
denn auf sittlichem Gebiete liegt das Ideal in unendlicher Ferne, ist
bloß eine Idee, während es auf ästhetischem Gebiete immer Wirklich-
keit ist.

Die beiden Wertungsformen beruhen auf zwei entgegengesetzten
Tendenzen im menschlichen Wesen; die eine davon — man könnte
sie vielleicht bildlich die zentrifugale nennen — ist die Tendenz alles
 
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