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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Tumarkin, Anna: Ästhetisches Ideal und ethische Norm
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0174
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170 ANNA TUMARKIN.

bloß insofern wir uns einer bewußten Norm entsprechend finden, son-
dern unbedingt und unmittelbar, so wie wir uns im Augenblick fühlen.
Wir selbst sind so die Norm, unser Selbstgefühl ist der Maßstab, auf
dem die Wertung des Objektes beruht, die Objektvorstellung wird um
ihrer selbst willen bejaht, hat Eigenwert, ist Gegenstand einer wirklich
heautonomen Wertung. Bei der ästhetischen Wertung empfinden wir
daher kein »Soll«, wie bei der ethischen, keinen Zwang, keinen Zwie-
spalt zwischen dem, was wir ohne jedes Dazwischentreten der Re-
flexion, unmittelbar bejahen, und einer bewußten Norm, die uns vor-
schreibt, was wir bejahen sollten. Im Gegensatz zum normativen Cha-
rakter der ethischen Wertung steht die Unmittelbarkeit der ästhetischen
Beurteilung und deren Unabhängigkeit von allen bewußten ästhetischen
Prinzipien. Zeigt man einem, daß seine allgemeine ethische Norm un-
haltbar ist, so fällt damit auch sein ethisches Einzelurteil hin, denn es
beruhte auf jener Norm: zerstört man einem, der seine Ethik auf Gott-
vertrauen aufgebaut, seinen Gottesglauben, überzeugt man einen, der
immer das Wohl der Menschheit vor Augen gehabt, von der Nichtig-
keit und Eitelkeit dieses Menschenwohls, so verlieren sie, bis sie sich
eine neue Norm geschaffen, auch im täglichen Leben den sicheren
Boden. Rüttelt man aber an den ästhetischen Theorien, die sich je-
mand aufgestellt hat, so wird er vielleicht theoretisch unsicher, das
unmittelbare Urteil aber bei einzelnen ästhetischen Eindrücken wird
dadurch wenig modifiziert; jeder, der sich mit ästhetischen Theorien
befaßt, weiß aus eigener Erfahrung, wie wenig das unmittelbare Urteil
auf diesem Gebiete von allgemeinen Theorien abhängt.

Der Ursprung der ästhetischen Wertung aus der Einfühlung be-
dingt aber nicht nur die Unmittelbarkeit des ästhetischen Urteils und
seine Unabhängigkeit von allen normativen Prinzipien, sondern auch
noch eine andere Eigentümlichkeit desselben: in der ästhetischen Ein-
fühlung bejahe ich freilich mich selbst, aber nicht dieses individuelle Ich,
wie es durch meine augenblickliche gegebene Lage bestimmt ist, nicht
dieses einzelne Individuum mit seinen realen Bedürfnissen; ich abstra-
hiere vielmehr von allen meinen individuellen Lebensbedingungen, trete
aus meiner individuellen Lebenssphäre heraus und bejahe nur, was an
allgemeinen Menschenanlagen in mir liegt, mein »ideelles Ich«. Daher
trägt dieses Bejahen nicht den Charakter von persönlichem Genuß,
wie das unmittelbare instinktive Bejahen von allem, was meinem indivi-
duellen Wohl zuträglich ist, sondern den von objektiver Wertung. An
das instinktive Bejahen seines Selbst knüpft sich daher das natürliche
Bedürfnis, daß auch andere dieses Selbst mitbejahen. Der Genuß, wie
die auf Genuß zielende praktische Schätzung, ist egoistisch: das ist
mir als Individuum zuträglich, — wenn es anderen nicht zuträglich ist,
 
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