64 KURT BRKYSIG.
wahrscheinlich gemacht, daß drei ihrer Besonderheiten zuerst auf-
getreten sind, und zwar jede für sich, wenn auch alle ungefähr gleich-
zeitig: die Kreuzrippe des Gewölbes, der Spitzbogen, die Strebe-
stütze — sei es Strebebogen, sei es Strebepfeiler. Welcher von
den dreien die Führung beizumessen sei, scheint bei der Bruchstück-
haftigkeit der schriftlichen Überlieferung und bei der Dunkelheit der
Denkmäler durch geschichtliche Untersuchung schwer auszumachen
zu sein. Aber aus Gründen der inneren balikünstlerischen Folge-
richtigkeit ist mit großem Nachdruck behauptet worden, daß die
Kreuzrippe das entscheidende und zugleich das die anderen be-
dingende Merkmal sei, ja daß sie die Wurzel aller Gotik selbst sei.
Die französische Bezeichnung für die gotische Bauweise, le style
ogival, stellt sich dieser Auffassung" als wortwörtlich richtig und
siegreich dar. Insonderheit der Spitzbogen — der ja schon längst
seiner herrscherlichen Stellung in dem Formengebilde der Gotik ent-
kleidet worden ist — sinkt nun vollends zur Folgeform der Kreuz-
rippe und der durch sie bedingten Gestaltung des Gewölbes herab.
Strebepfeiler und Strebebogen erscheinen noch selbstverständlicher
als tatsächliche Schlußfolgerungen aus dem durch die Kreuzrippe ge-
schaffenen Zustand l).
Der Zusammenhang, der hier angenommen wird, ist dieser: die
Kreuzrippe ist zuerst, ohne alle weitergehenden Absichten und Folgen,
angewandt worden lediglich zur Verstärkung der Grate des — an
sicli ja schon in der romanischen Bauweise bestehenden — Kreuz-
gewölbes. Dann wurde man inne, wie diese Verstärkung ermögliche,
für die Umrißform des Gewölbes vom Geviert loszukommen und
rechteckige, trapezförmige, dreieckige Gewölbe an seine Stelle zu setzen.
Schon die wichtigste von.diesen neuen Formen, das längliche Recht-
eck, führte zur Spitzbogengestalt der Gewölbbogen und -rippen, da
man ja nun nicht mehr an das alte strenge Verhältnis zwischen Spann-
weite und Scheitelhöhe des Bogens — nämlich 1 : V- — gebunden
war. Von den Spitzbogen der Gewölbe war dann der Weg zum
Spitzbogen der Schiedbogen und der Fenster nicht mehr weit. Eine
Kette gleich schlüssiger Folgerungen aber leitet von der Kreuzrippe zu
Strebepfeiler und Strebebogen hin. Die Kreuzrippe ermöglicht zwar
die Verdünnung der Gewölbkappen, drängt aber allen Schub und
Druck auf die Ecken zusammen, als auf die Endpunkte der Rippen,
und verstattet demgemäß, die tragenden Seitenmauern — etwa durch
Fenster — zu schwächen, wofern nur die Eckpunkte des Gewölbes
') Vgl. vornehmlich die literargeschichtlichen und die systematischen Bemer-
kungen von Dehio-Bezold, Kirchl, Baukunst 11, 5 f., 15, 41, 81.
wahrscheinlich gemacht, daß drei ihrer Besonderheiten zuerst auf-
getreten sind, und zwar jede für sich, wenn auch alle ungefähr gleich-
zeitig: die Kreuzrippe des Gewölbes, der Spitzbogen, die Strebe-
stütze — sei es Strebebogen, sei es Strebepfeiler. Welcher von
den dreien die Führung beizumessen sei, scheint bei der Bruchstück-
haftigkeit der schriftlichen Überlieferung und bei der Dunkelheit der
Denkmäler durch geschichtliche Untersuchung schwer auszumachen
zu sein. Aber aus Gründen der inneren balikünstlerischen Folge-
richtigkeit ist mit großem Nachdruck behauptet worden, daß die
Kreuzrippe das entscheidende und zugleich das die anderen be-
dingende Merkmal sei, ja daß sie die Wurzel aller Gotik selbst sei.
Die französische Bezeichnung für die gotische Bauweise, le style
ogival, stellt sich dieser Auffassung" als wortwörtlich richtig und
siegreich dar. Insonderheit der Spitzbogen — der ja schon längst
seiner herrscherlichen Stellung in dem Formengebilde der Gotik ent-
kleidet worden ist — sinkt nun vollends zur Folgeform der Kreuz-
rippe und der durch sie bedingten Gestaltung des Gewölbes herab.
Strebepfeiler und Strebebogen erscheinen noch selbstverständlicher
als tatsächliche Schlußfolgerungen aus dem durch die Kreuzrippe ge-
schaffenen Zustand l).
Der Zusammenhang, der hier angenommen wird, ist dieser: die
Kreuzrippe ist zuerst, ohne alle weitergehenden Absichten und Folgen,
angewandt worden lediglich zur Verstärkung der Grate des — an
sicli ja schon in der romanischen Bauweise bestehenden — Kreuz-
gewölbes. Dann wurde man inne, wie diese Verstärkung ermögliche,
für die Umrißform des Gewölbes vom Geviert loszukommen und
rechteckige, trapezförmige, dreieckige Gewölbe an seine Stelle zu setzen.
Schon die wichtigste von.diesen neuen Formen, das längliche Recht-
eck, führte zur Spitzbogengestalt der Gewölbbogen und -rippen, da
man ja nun nicht mehr an das alte strenge Verhältnis zwischen Spann-
weite und Scheitelhöhe des Bogens — nämlich 1 : V- — gebunden
war. Von den Spitzbogen der Gewölbe war dann der Weg zum
Spitzbogen der Schiedbogen und der Fenster nicht mehr weit. Eine
Kette gleich schlüssiger Folgerungen aber leitet von der Kreuzrippe zu
Strebepfeiler und Strebebogen hin. Die Kreuzrippe ermöglicht zwar
die Verdünnung der Gewölbkappen, drängt aber allen Schub und
Druck auf die Ecken zusammen, als auf die Endpunkte der Rippen,
und verstattet demgemäß, die tragenden Seitenmauern — etwa durch
Fenster — zu schwächen, wofern nur die Eckpunkte des Gewölbes
') Vgl. vornehmlich die literargeschichtlichen und die systematischen Bemer-
kungen von Dehio-Bezold, Kirchl, Baukunst 11, 5 f., 15, 41, 81.