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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Kober, August H.: Der Begriff der Literaturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0200
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DER BEGRIFF DER LITERATURGESCHICHTE. 193

auch eng an einen überlieferten Stoff halten, die Wahl dieses Stoffes
ist grundsätzlich frei, nur subjektiv bestimmt, in jedem Punkte des
Verlaufes des Gestaltungsprozesses wirkt das Subjektiv-Individuelle
mindestens noch dem Objektiven gegenüber aufnehmend oder ab-
lehnend, jedenfalls also derart bestimmend, daß das schließliche Pro-
dukt durchaus subjektiv gestimmt ist. Was bei der Staatsgeschichte
niemals der Fall ist, daß die beiden Komponenten der Bewegung sich
ineinander spalten zu der Aufeinanderbewegung nach dem Prinzipe
der Kausalität, daß also das Subjektive eine völlig gleichwertige Ent-
sprechung im Objektiven findet, das ist hier der Fall.

Damit ist die ursprüngliche Einheitlichkeit des historischen Ver-
laufes als einfacher, durch keine festen Bildungen gestörter dauernder
Ablauf aufgehoben. Es gibt keine der allgemeinen Geschichte ent-
sprechende Kunstgeschichte, die als die zeitliche Abfolge einzelner
Vorgänge die Wirker und Werke dieser Vorgänge gleichzeitig mitein-
ander enthielte. Vielmehr muß an Stelle dieser sich gewissermaßen
selbst darstellenden Geschichte der Verlauf der künstlerischen Schöp-
fungsakte und ihrer Produkte erst zu einer Geschichte »zusammen-
gelesen« werden. Man summiert entweder die einzelnen durch die
Kausalwirkung Subjekt-Objekt entstandenen festen Komplexe (Kunst-
werke) oder die darin sich offenbarenden einzelnen individuellen Kraft-
vorgänge. Zweifellos ist also von vornherein eine Doppelheit im ge-
schichtlichen Verlaufe der Völker vorhanden, zwei Kraftquellen sind
da, aus denen zwei Ströme historischer Entwicklung entspringen: aus
der einen die Reihe von Bewegungsvorgängen, deren ununterbrochenem
Ablauf ein einheitliches Arbeitsprodukt entspricht: der Staat; aus der
anderen die Reihe der einzelnen künstlerischen Individuationen, unbe-
stimmbar und veränderlich ihrer Entstehung nach, daher keine un-
unterbrochen fortlaufende Reihe, kein einheitliches Arbeitsziel oder
Produkt.

Durch den Hinweis auf einige bekannte Äußerlichkeiten mag diese
Erscheinung verdeutlicht werden. Die politische Geschichtsschreibung
hat immer die Möglichkeit, ihre Untersuchung fest zu verankern an
einem konkreten Zweckgebilde. So ein richtunggebender Grundbegriff
•st der Staatsbegriff; man mag ihn ganz körperlich greifbar zugrunde-
legen als die genau bestimmte, von vornherein bekannte Größe, auf
die hin als Modifikationstätigkeit alle Einzelvorgänge (Individuen und
auch Etappen der Gesamtentwicklung) gewertet werden; oder man
mag ihn annehmen als den ideellen Grenzfall höchstmöglicher Kräfte-
entfaltung, als deren Teilerscheinung jede individuelle Einzelheit ge-
wertet wird.

Die Literaturgeschichte (Kunstgeschichte überhaupt) kann aus sich

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. X. 13
 
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