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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0218
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BESPRECHUNGEN. 211

»die meisten, jedenfalls die begabten Kinder, etwa vom dritten Lebensjahre an,
eine Periode durchmachen, die man als die der infantilen Sexualforschung be-
zeichnen darf.« Hingegen muß ich es entschieden ablehnen, daß die äußerlichsten
Ähnlichkeiten zu Erklärungsgründen erhoben werden. Weil Leonardos Vater sich
anfänglich nicht um den Sohn gekümmert hat, so hat auch der Künstler, der
»Vater« seiner Werke, diese vernachlässigt! Mit Rücksicht auf sprachliche Be-
zeichnungen werden — seltsam genug! — die Träume vom Fliegen auf die Sehn-
sucht nach geschlechtlicher Leistung zurückgeführt, während sie doch ohne Zweifel
auch aus anderen Gründen entstehen können; und nun weiter: »Indem Leonardo
uns eingesteht, daß er zu dem Problem des Fliegens« (das sich plötzlich an die
Stelle der allgemein bekannten Träume schiebt) »von Kindheit an eine besondere
persönliche Beziehung verspürt hat, bestätigt er uns, daß seine Kinderforschung
auf Sexuelles gerichtet war«.

Solche wunderlichen Sprünge mutet Freud uns zu. Ein anderes Beispiel. Eine
geierköpfig gebildete Göttin der Ägypter wurde »Mut« genannt; der Verfasser fügt
hinzu: »Ob die Lautähnlichkeit mit unserem Worte Mutter nur eine zufällige ist?«
Wie ein Mann der Wissenschaft eine solche Frage aufwerfen kann, ist schwer ver-
ständlich. Man sieht, daß der überreizte Forschungstrieb des geistreichen Anregers
nicht in Zucht genommen wurde. Freud erinnert an die Gelehrten, die mit einem
Aufgebot mühsam ersonnener Beweise Bacon zum Dichter der Shakespeareschen
Dramen stempelten, oder an jenen Sonderling, der da nachwies, Goethes »Faust«
sei in einer Geheimsprache geschrieben, bedeute also etwas ganz anderes, als was
die Worte sagen. Man trifft das Wesen der Sache wohl am besten, wenn man
Freuds Psychoanalyse eine rabbinische Exegese des Geschlechtslebens nennt: be-
wundernswert wegen ihres Spürsinns, beachtenswert wegen mancher Ergebnisse,
tadelnswert wegen ihres phantastischen und spielerischen Rationalismus, bedauerns-
wert wegen der sich notwendig anschließenden praktischen Nutzanwendung.

Schade, daß Freuds Auge verlernt hat, eine gerade Linie als gerade zu sehen,
ebenso schade, daß andere Augen in der gleichen Weise zu sehen sich bemühen,
'n Reiks Schriften herrscht die Sucht, alles aus unwesentlichen Einzelheiten zu er-
klären, anstatt zunächst einmal in den großen Zügen die Erscheinung des Wesen-
haften zu erblicken. Diese Nuancenvergötterung führt zu verschobenen Perspek-
tiven. Mag auch bei Dichtern in keimlichen Einzelheiten manchmal der Trieb
hervorleuchten, längst untergegangenen sexuellen Kinderwünschen eine maskierte
Erfüllung zu schaffen, so darf doch deshalb nicht die ganze Poesie als Ausdruck
solcher Wünsche betrachtet werden. Rank geht in der Bestimmtheit der Versiche-
rung noch weiter, denn er lehrt, daß die Inzestphantasie im Seelenleben des Dich-
ters von überragender Bedeutung sei. Man muß, so sagt er (S. 14), »neben der
großen Zahl offenkundiger und teilweise verhüllter, dichterisch eingekleideter Inzest-
phantasien eine noch größere Anzahl gänzlich entstellter anerkennen. Wollten wir
auch diese berücksichtigen, so . .. würden wir wahrscheinlich dazu gelangen, den
größten Teil unserer klassischen und schönen Literatur ... in unser
Thema einzubeziehen«. Nach dieser ungeheuerlichen Behauptung erscheint das
eigentliche Thema des Rankschen Buches als ein bescheidener Anspruch; es soll
bewiesen werden, daß »eine Reihe von Mythen, Märchen, Sagen und Dichtungen
den Kampf des Individuums mit den libidinösen Familienregungen« deutlich wider-
spiegelt. »In der Ödipussage hat der uneingestandene Drang des Knaben, den
störenden Vater zu beseitigen, um seine Stelle bei der geliebten Mutter einnehmen
zu können, unvergänglichen Ausdruck gefunden.« Wirklich? Wird mit einer solchen
Auffassung nicht die ganze Tragik aus dem Vorgang weggewischt? Werden wir
 
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