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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0230
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BESPRECHUNGEN. 223

Unbestimmbare, nicht der Horizont, der selbst Grenze ist, sondern das Grenzen-
lose, die Unendlichkeit des Raumes« (S. 111).

Abermals kann man vom europäischen Standpunkt aus nur konstatieren, daß
ein derartiges Kunsterleben bei uns alle Merkmale des reinsten Dilettantismus be-
säße. Keinerlei Grenze für vagste Stimmungen und willkürlichste Phantastereien
ist gegeben. Entweder es werden alle Bahnen offen und ein regel- und zielloses
Schwimmen in völlig unkontrollierbaren Stimmungen stellt sich ein. Oder es müssen
jene Bestimmtheiten, die innerhalb der europäischen Kunst durch das Erfüllungs-
prinzip gegeben sind, durch traditionelle Konventionen gegeben werden, die aus
den zahllosen möglichen Erlebensweisen so völlig unbestimmter Daten eine als die
einzig »erlaubte« festlegen. Glaser fühlt an manchen Stellen selber das Prekäre,
das in einem derartigen Formelwesen liegt und spricht zuweilen ausdrücklich
von der Gefahr, die dieser Kunstweise droht, zu einer »Kunst der Ästheten«
zu weiden (S. 101). Sie hat diese Gefahr oder dieses »Schicksal« selber ver-
schuldet. Denn sie läßt dem Kunstwerke, psychologisch gesprochen, nicht die
ihm einzig gemäße Aufgabe der Anregung zur Re-Produktion der Konzep-
tionsgefühle des Künstlers. Diese ursprünglichen Gefühle des Künstlers, die
dem Kunstwerke ja erst sein Leben geben, werden im abendländischen Kultur-
kreise durch die Elemente des Kunstwerkes selber sicher umgrenzt und bestimmt.
Farbliche, inhaltliche und formale Elemente sind es innerhalb der bildenden Künste,
tonale, melodische, harmonische, rhythmische und dynamische Elemente innerhalb
der Musik, musikalische und inhaltliche Elemente in der Literatur. Wenn dem
Aufnehmenden jedoch die Möglichkeit bleibt, an Hand einer unbestimmt leisen
formalen Qualität das »Nichtseiende« zu erleben, dann re-produziert der Auf-
nehmende nicht, sondern er wird, wie bereits vorhin bei der »taoistischen« Land-
schafts-, Tier- und Pflanzendarstellung konstatiert werden mußte, produktiv
ästhetisch lebendig. Und gerade diese individuelle ästhetische Eigenproduktivität
an Hand von Kunstwerken anderer ist es ja, die das ästhetisch durchaus berechtigte
Kunsterlebnis und Kunsturteil des großen Durchschnittes, dem die mittelmäßigen
Bilder, seinem eigenen Habitus nach, ohne weiteres verständlich sein und »gut
gefallen« werden, von jenem eigentlichen »Dilettantismus« des Kunsterlebens
definitorisch trennt, dem das Kunstwerk nur Anlaß und Auslöser zu eigener (ob
primitiver oder an sich hochstehender) innerer Phantasie- und Gefühlsproduktion
wird. Es ist schwer zu glauben, daß sich ein im abendländischen Kunstverständnis
und Kunstgenießen erfahrener Europäer in dieser schwimmenden und unscharfen
Art des ostasiatischen Kunstgenusses jemals auf die Dauer wirklich wohlfühlen
könnte.

Im folgenden Kapitel »Der Mensch« wird erläutert, wie, der seelischen Grund-
einstellung des Ch'i-yün zufolge, nun das naturalistische Porträt vom Ausdrucks-
porträt abgelöst werden mußte. »Ein Ausdrucksporträt ist entstanden, das weniger
die äußeren Züge körperlicher Ähnlichkeit als die Stimmung einer Persönlichkeit
zur Darstellung bringt .. . Der Wiedergabe menschlicher Gemütskomplexe in einem
allgemeinen Sinne geht das neue Menschenbild nach« (S. 116). »Der letzte Rest
von Körperlichkeit ist in solchen Bildern getilgt. Es bleibt kein Fleck, der nicht
unmittelbar Träger eines Ausdrucks wäre« (S. 118).

Das Wesentliche aus dem folgenden Kapitel »Tier und Pflanze« haben wir an
einer früheren Stelle (S. 220) vorausgenommen. Das Schlußkapitel des Abschnittes
Ch'i-yün ist »Technik« betitelt. Zuerst wird erzählt, daß der japanische Kenner von
seinem Freunde, vor dem er bei der »Teezeremonie« das Tuschbild im Tokonoma,
der Bildnische, entrollt, keineswegs tiefsinnige Äußerungen über die allgemeinen
 
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