Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

DOI Artikel:
Feldkeller, Paul: Der Anteil des Denkens am musikalischen Kunstgenuß, [2]
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0293
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
286 PAUL FELDKELLER.

Mehr oder weniger war der Text für das Empfinden des Hörers doch
nur Mittel oder Vorwand. Daher konzentrierte sich das Interesse auf
die kleine, geschlossene Musiksätze ermöglichenden »Nummern«. In-
folge des niemals idealen Text- und Sinnzusammenhanges kam es so
statt zu einer Apperzeption von solch ungeheurem Umfang und Reich-
tum, wie sie z. B. für den »Ring des Nibelungen« erforderlich ist, zu
vielen kleinen Apperzeptionen, statt zu einer einzigen Wirkung zu vielen
kleinen Effekten. Die Folge davon (bzw. die Ursache dafür) war viertens
die ungleich größere Objektivierung des Kunstwerkes bei der älteren
Oper. Da war die Kunst »Theater«, bei Wagner wurde sie zur »Re-
ligion«. Dort wollte man unterhalten und zerstreuen, hier erheben
und sammeln. Nun sehen wir, warum erhabene Gedanken und Emp-
findungen im Wagnerschen Sinne dort nur spärlich gedeihen konnten:
das Erhabene und das Edle sind die sittlichen Modifikationen des Ästhe-
tischen und lassen wegen ihres sittlichen oder dem Sittlichen ganz
nahe liegenden Charakters eine restlos entlastende, vom Wollen (im
weitesten Sinne) befreiende Objektivierung nicht zu. Vor allem das
Erhabene ist Gegenstand der Andacht als einer edlen und zarten Art
des »Wollens«. Darum konnte die auf Unterhaltung und Rührung
ausgehende ältere Oper das Erhabene sehr schlecht gebrauchen und
das moderne Musikdrama sehr gut. Hier wird eine solche Vertiefung
des höchsten geistigen Lebens bezweckt und erreicht, daß man erlebt,
statt zu objektivieren, und (wie in Bayreuth) mit allen Mitteln ver-
gessen zu machen sucht, daß man sich im Theater befindet. Fünftens
aber schmiegt sich bei Wagner Melodie, Rhythmus, Klangfarbe, Har-
monie usw. in einer Weise dem jeweilig zugehörigen Gedanken- und
sogar Assoziationsinhalt an, wie das vor ihm niemand erreicht hatte.
Vordem war diese Anpassung nur eine allgemeinere, weil der älteren
Programm- und Opernmusik noch nicht eine solche Fülle der Aus-
drucksmittel zu Gebote stand wie der späteren Kunst, die daher die
Musik viel individueller auf den jeweiligen Gedankeninhalt zuschneiden
konnte. Noch allgemeiner und unbestimmter wird freilich der Aus-
druck, wo sogar jedes Wort fehlt. Man vergleiche mit Bezug hierauf
den ersten Satz von Beethovens > Neunter« mit dem kurzen Vorspiel
zu »Tristan« III, die beide im wesentlichen den gleichen Gedanken-
und Stimmungsgehalt besitzen. Aber dort ist alles allgemein, vag und
verschwommen, nicht so scharf, eindeutig und eindringlich wie in dem
anderen Beispiel, das einen ganz konkreten, fest umrissenen Einzelfall
betrifft. Die hier resultierende komplexe Gestaltqualität ist bedeutend
ausgeprägter und ergreifender als die andere, trotzdem rein musikalisch
der Beethovensche Satz höher steht.

So mußte es bei entsprechend disponierten Zuhörern Wagnerscher
 
Annotationen