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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Feldkeller, Paul: Der Anteil des Denkens am musikalischen Kunstgenuß, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0292
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DER ANTEIL DES DENKENS AM MUSIKALISCHEN KUNSTGENUSS. 285

nicht die Weltanschauung des Komponisten nacherlebt (er braucht sie
nicht zu teilen) und die dazu nötigen abstrakten Urteile fällt. Ohne
daß man die Schopenhauer-Wagnersche Weltanschauung kennt und
sich in sie hineinversetzt, wird man niemals den »Tristan« verstehen,
wie der Künstler ihn beim Schaffen gemeint hat. Denn an einem
Kunstwerk Freude und Genuß haben, beweist für sein Verständnis
noch gar nichts. Wie sehr das innige Miterleben mit der zu einer
Musik gehörigen Gesinnung und Weltanschauung auch weniger kunst-
volle, ja dürftige Musiksätze veredeln kann, kommt zum Bewußtsein,
wenn man Wotans lange Rede in »Walküre« II mit den genannten
Vorbedingungen hört. Hier sind es die Weitherzigkeit und Natürlich-
keit einer sinnenfrohen, lebenstrotzenden, eigengesetzlichen Persönlich-
keit in Fragen der Liebe, die im tragischen Kampfe gegen Prüderie
und Rückschritt höchste Teilnahme, ja Erhebung bei gleichgesinnten
Zuschauern und -hörern erregt. Hinzu tritt der romantische Zauber
der germanischen Götterwelt, und so ist erklärlich, warum so viele
Leute, die für diese beiden Dinge keine Hingebung aufzubringen ver-
mochten, so viel über »Längen« klagten, von denen man jetzt kaum
noch hört. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man die größere
Hälfte des ungeheuren Erfolges der Kunst Richard Wagners auf die
Rechnung des geschriebenen wie gesprochenen Wortes, nicht der
bloßen Musik setzt (ohne daß die Hörenden dies wissen), freilich
auch nicht des isolierten Wortes, sondern der resultierenden Synthese
aus Musik und Gedanke, die im Hörenden vorzubereiten der Künstler
meisterhaft verstanden hat.

Erhebende und ergreifende Gedanken brachten wohl auch Mozarts,
Beethovens und Webers Opern. Erstens aber blieben es einzelne
Gedanken, während die Wagnerschen Kunstwerke ihrer ganzen Atmo-
sphäre nach erhabenen Stil zeigen. Zweitens war der Text Neben-
sache und wurde auch vom Hörenden als solche empfunden; für den
modernen Musikdramatiker und Opernbesucher treten dagegen Wort
und Gedanke in viel stärkerem Maße in den Blickpunkt des Bewußt-
seins, die Geschehnisse sind sorgfältiger durchdacht, beanspruchen
und erhalten ein weit höheres Interesse und beeinflussen so in
nie dagewesener Weise das Resultat. Das eben begriff die Mehrzahl
der Zeitgenossen Wagners nicht, weil sie von der gewohnten Art der
willkürlichen Bewußtseinseinstellung und Apperzeption nicht lassen
wollte oder konnte. Erst die nächste Generation ließ ihrer großen
Mehrzahl nach dem Gedankengehalt in ihrem Bewußtsein sein Recht
werden. Damit in begreiflichem Zusammenhange steht drittens die
Vernachlässigung des Textzusammenhanges in der alten Oper.
Komponist wie Hörer hatten es fast oder nur auf die Musik abgesehen.
 
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