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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Major, Erich: Kunst und Krieg
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0357
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350 BEMERKUNGEN.

Ich ist es, was die Massengefühle hervorbringt. Sie sind notwendig, einfacher und
heftiger als die des einzelnen. Einfacher sind sie, weil sie ja eben nur in der
Gemeinsamkeit wurzeln und demgemäß nur von Erscheinungen hervorgebracht
werden können, die eine Art von brutaler Energie entwickeln, die alles Gegensätz-
liche, alles verstandesmäßig Verschnörkelte oder unfruchtbar Sentimentale nieder-
wirft. Heftiger ist das Massengefühl aus demselben Grund, und wohl auch, weil
der Masse als solcher überhaupt jede Möglichkeit gemäßigter
Äußerung fehlt. Sie kann nur schreien oder klatschen, ehrfürchtig schweigen
oder in tobende Form oder wilde Heiterkeit ausbrechen. Sie kann, wenn man
von dem besten Publikum, das schon nicht mehr »Masse« ist, absieht, jedoch nicht
bedingt billigen, nicht sanft ablehnen. Was die Masse tut und sei auch nur, daß
sie nichts tut, ist radikal. Indem sie gemäßigt bleibt, lehnt sie bereits ab. Sie
ist bis zu einem gewissen Grad immer gewalttätig, und nicht umsonst hat Mirabeau
den Satz geprägt: Das Schweigen der Völker ist die Lehre der Könige!

Daraus entspringen jedoch wichtige Folgen und Gefahren, die am einfachsten
wohl definiert werden als die Gefahren der Einfühlung. Diese sind: wahllose Re-
zeptivität, Gehorsam für jeden heftigen Eindruck, Widerstandslosigkeit gegenüber
dem Sturmangriff der Suggestion, das Sichbeugen, das Kriechen vor einer reizvollen
und blendenden Persönlichkeit. Deswegen sehen wir so oft die Flucht der Feineren
und Schamvollen, der Philosophen und Künstler vor der Menge, daher die Ver-
achtung, die sie für die Öffentlichkeit zur Schau tragen, so gerne sie auch die
Huldigungen der Einzelnen annehmen und so sehr sie auch nach dem Erfolge
streben. Denn wie die Einfühlung erst der wirklichen ästhetischen Momente — nach
unserer Ansicht des Erotischen und des Willens zur Verewigung — bedarf, um die
Gefahren gänzlicher Zersplitterung vermeiden zu können, so bedarf die Masse der
hemmenden und dennoch erst zur echten Steigerung führenden Schranke, welche
der Enthusiasmus für eine große Idee aufbaut. Wehe dem, der die Masse be-
herrscht, ohne Zuchtwahl zu üben und ohne inneres Gesetz und ohne den Willen,
nicht nur sie zu steigern, sondern auch zu erheben. Bald genug wird er, der »Dem-
agoge, hilflos die Geister nicht bändigen können, die er gerufen hat, und selbst von
dem Sturm verschlungen werden, den er heraufbeschwor. Die Masse, so ließe sich
behaupten, hat gegenüber dem Einzelnen ein ähnliches Verhältnis wie die Industrie
zum Handwerk. Sie vergröbert, vereinfacht und erleichtert die Empfindungsäuße-
rungen ganz wie die Maschine, die blitzschnell das erzeugt, wozu ein Handwerker
mühsam und mit angestrengtem Fleiß Tage brauchte. Wie das Industrielle bisher
in seinen gesteigerten Formen nur zum Gigantischen und Phantastisch-Grauenhaften
geführt hat, so wächst auch oft genug die Masse in ihrer gefährlichen Elastizität
zu einem Tier, halb Affe, halb Tiger (Voltaire), und liefert als ästhetischen Eindruck
im besten Falle jene, man möchte sagen, mechanische Erhabenheit, die wir bei
allem quantitativ Übermächtigen, das Schrecken und Erstaunen einflößt, empfinden
können.

Aus all diesem ist zu sehen, welcher eindringenden Energien es bedarf, um
diesen Gefahren vorzubeugen. Im ganzen sind wieder zwei Mittel möglich. Vor
allem: Der Wille zur Verewigung schafft sich das Gesetz als Niederschlag seiner
wichtigsten Erfahrung. Er stellt sich damit regelgebend, warnend und ratend,
organisierend der Vielheit gegenüber. Bewaffnete Diener werden aufgestellt,
um Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen, alle Lebensverhältnisse werden durchforscht,
nur um Gemeinsames zu finden, Durchschnittlichkeiten, nach denen das Gesetz
selbst sich ergänzen und verändern kann. Gruppen werden gebildet, Abgrenzungen
geschaffen, Stände und Klassen, nur damit die Menge sich teile und zwischen den
 
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