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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Major, Erich: Kunst und Krieg
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0356
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BEMERKUNGEN. 349

Was ist die Eigenart des Erotischen, das sich als Vaterlandsbegeisterung äußert?
Es ist sicherlich ein weniger sinnliches Gefühl, wie beim rein Künstlerischen.
Denn es beruht auf mehr oder minder abstrakten Begriffen, wie Volk und Staat,
die nicht unmittelbar der sinnlichen Erfahrung gegeben, sondern erst abstraktiv
Gewonnenes sind. Man kann sagen: die künstlerische Fähigkeit ist zuerst Liebe
und dann Verewigungstrieb, das Staatsgefühl ist zuerst Verewigungstrieb und dann
aus dieser Verewigung entspringende Liebe. Denn die Gründe zur Staatenbildung
sind im allgemeinen mit dem, was als psychologische Wurzel des Verewigungs-
triebes bezeichnet wurde, identisch: die Notwendigkeit des Schutzes gegen
Unglück und Feinde, die Ökonomie, die zusammenfaßt und das Abspringende zu-
rückweist, die Lust am Gesetz, an der Festlegung dessen, was wir erfahrungsgemäß
als zweckmäßig und richtig gefunden haben, all diese Elemente des Verewigungs-
triebes sind zugleich Motive der Staatenbildung. Dazu mögen wohl auch rein
sinnliche Umstände kommen, nämlich körperliche Gleichartigkeit einer Sippe, die
sich deswegen aneinanderschließt, Beschaffenheit einer Gegend, ihr landschaft-
licher Reiz, ihr Nutzen, ihre gute Verteidigungsfähigkeit. All diese Momente setzen
sich in uns fest, schicken tausend feine Wurzelfasern aus. Wir verleben unsere
Jugend, den erotisch am stärksten betonten Zustand in der Heimat, wir passen uns
ihren Sitten an, und aus all dem entsteht ein Gemeingefühl, dessen Wesen erst
definiert werden kann, wenn wir die Massengefühle überhaupt in den Rahmen der
Untersuchung ziehen.

Die Massengefühle können definiert werden als die Selbststeigerung und
Selbstbejahung bestimmter Wirkungen bei einer Mehrheit von Personen, die ihnen
ausgesetzt sind. Die Masse aber wäre zu definieren als jene Mehrheit von Personen,
die so groß ist, daß der einzelne sich unmöglich oder nur mit größter Schwierigkeit mit
allen anderen einzelnen in Verbindung setzen kann, vielmehr muß er entweder der
Wirkung auf alle entsagen oder sich kollektiv an die Gesamtheit wenden, wodurch
er in gewissem Maße von den Individualitäten der einzelnen abstrahieren muß.
Gehen wir in eine Versammlung, auf einen Ball oder in ein Konzert, in ein Theater,
so finden wir: ehe der einzelne auftritt, ehe die entscheidende motorische Kraft
der Beredsamkeit, der Musik oder Poesie vorhanden ist, ehe der Mann kommt,
der das Weib Masse bändigt, gibt es nichts, was so bar jeder Aktivität wäre als
die Masse. Jeder fühlt eine dumpfe Gärung und Erwartung, ein Streben, ohne das
»erregende Moment« finden zu können, das aus all diesen verschiedenen Faktoren
das Ergebnis zieht oder diesen Brüchen den gemeinsamen Nenner schafft. Da tritt
der Schaffende hervor und zerreißt die Schleier, stößt alle Unklarheit, allen tauben
Widerstand zurück, der ihm aus der Menge entgegenströmt und beginnt dieser
Energie die eigene entgegenzusetzen. Und da vollzieht sich die Wandlung. Plötz-
lich formt sich die abenteuerlich zerklüftete ungestalte Vielheit zu einer Einheit,
bildet aus sich selbst heraus ein Neues gleich dem, was Wundt schöpferische
Resultante nennt, ein Ergebnis, das in seiner Gesamtheit mehr ist als die
Summe der Elemente, aus denen es besteht. Es ist hier wie beim Tanz und beim
Rhythmus überhaupt, wo durch die Teilnahme mehrerer in dem einzelnen eine Er-
leichterung und Beschwingung der Bewegungen, eine gesteigerte Selbstbejahung
der rhythmischen Form entstehen muß. Der Nachahmungstrieb, die Beruhigung
durch das Beispiel der anderen, die gesteigerte Überzeugung, richtig und gut zu
handeln, die durch solche Gemeinschaft sich entwickelt, das alles hebt die Hem-
mungen auf, die Schüchternheiten und Zweifel, die ihm sonst anhaften. Wir fühlen
uns selbst in den anderen, indem wir uns mit ihnen »eins« wissen, und diese Ein-
fühlung (die durchaus nicht ästhetisch zu sein braucht), diese Vervielfältigung unseres
 
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