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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0362
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BESPRECHUNGEN. 355

will sein Thema unter den Gesichtspunkten der ersteren, nicht der letzteren be-
handeln. Mit seinen eigenen weiterhin ausgeführten Begriffsbestimmungen stimmt
das freilich nicht zusammen; denn nach diesen erscheint das Tragische, wie es ja
wohl auch dem wirklichen Verhältnis entspricht, als ein spezifisches Problem der
Lehre von der Dichtkunst; und das um so entschiedener, als der Verfasser seine
Untersuchungen auf das tragische Drama beschränkt. Allein es hätte keinen Zweck,
mit ihm darüber zu rechten, denn genau genommen tragen seine Gedankengänge
weder ästhetischen noch kunstwissenschaftlichen Charakter, sondern sie werden
so gut wie ausschließlich von ethischen Gesichtspunkten und Problemen bestimmt,
und das tritt bisweilen sogar mit auffallender Einseitigkeit hervor, wie etwa in der
Schilderung des Renaissancegeistes, welche für die Behandlung Shakespeares den
Grund legt.

Das leitende Motiv für Görland ist der Kampf des freien, sich selbst bestim-
menden Willens mit der Gegensätzlichkeit, die sich ihm notwendigerweise ent-
gegenstellt. Diese Gegensätzlichkeit bezeichnet der Verfasser als Schicksal,
indem er somit die Bedeutung, welche diesem Ausdruck im Sprachgebrauch der
Tragödie selbst wie in ihrer Theorie herkömmlicherweise beiwohnt, sehr wesentlich
erweitert. Mit Recht ist ihm die Idee des freien und autonomen Willens die Vor-
aussetzung aller Tragik, und er zieht daraus die freilich weniger einwandfreie Folge-
rung, daß diese Idee, da sie von Anfang an die Entstehung der Tragödie bedinge,
eine Geschichte nicht habe. Die innere Entwicklung der Tragödie könne sich dem-
nach ausschließlich auf die Auffassung derjenigen Mächte, die der Freiheit des
Menschen entgegentreten, also auf die Idee des Schicksals beziehen.

Unter diesem, wie man sieht, rein ethischen Gesichtspunkte betrachtet Gör-
land nun die geschichtlichen Höhepunkte der tragischen Dichtung. Er beginnt
mit Äschylos und Sophokles: bei beiden sind ihm die Götter die Vertreter der
Schicksalsidee, also die der Freiheit entgegentretenden amoralischen Mächte. Die
Idee der sittlichen Freiheit aber soll bei Äschylos die Moira verkörpern. Sie ist
der Ausdruck für das ewig und allgemein Gültige im Willen des Menschen selbst,
entspricht also ungefähr dem kategorischen Imperativ. Bei Sophokles dagegen soll
die Weltordnung als eine rein äußere Macht erscheinen, die nicht den Willen, son-
dern die Tat bestraft, auch wenn sie, wie die des Ödipus, durch keine unsittliche
Absicht bestimmt ist. Daher bezeichnet der Verfasser den Äschylos als moralischen
Optimisten, den Sophokles als Pessimisten. Der letztere sei nur Theologe, der
erstere aber Ethiker, ja, seine Tendenz sei geradezu die Bekämpfung des Götter-
glaubens und insbesondere der Orakelsucht. Freilich tritt auch bei Sophokles die
Unsittlichkeit der herkömmlichen Volksreligion hervor, wenn auch mehr unabsicht-
lich; dennoch sieht dieser Dichter das Heil für die Menschen ausschließlich in der
Unterwerfung unter die Gnade (richtiger die Willkür) der Götter.

Daß diese Darstellung die überlieferte Auffassung geradezu auf den Kopf stellt,
würde an sich noch nichts gegen sie beweisen. Daß ihre Begründung mehr
skizzenhaft und auf einzelne Dichtungen bezogen als durchgeführt und umfassend
ist, war mit dem Umfang und der Entstehungsart der kleinen Schrift notwendig
gegeben. Dennoch hätte Görland mindestens den Versuch machen müssen, die
Überlieferung in den Hauptpunkten zu entkräften und einen geschichtlichen Zu-
sammenhang, der sie ersetzen könnte, herzustellen. In der Hauptsache schiebt er
die Tendenz auf Zersetzung des überlieferten Götterglaubens, welche von Aristo-
phanes an bis auf die Gegenwart stets dem Euripides zugeschrieben worden ist,
auf den Äschylos zurück, ohne jene nach seiner Meinung irrtümliche Überlieferung
auch nur zu erklären, die den jüngsten der drei Tragiker mit seiner destruktiven
 
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