Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0363
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
356 BESPRECHUNGEN.

Richtung in ausgesprochenen Gegensatz gegen die beiden älteren stellt. Die nächste
Folge ist, daß er über Euripides gar nichts zu sagen weiß und ihn'daher mit keinem
> Worte erwähnt. Ist nun im übrigen auch zuzugeben, daß in Äschylos gewisse
revolutionäre Ansätze und Probleme stecken, so reichen diese doch bei weitem
nicht aus, um ihm eine Bekämpfung der Volksreligion zuzuschreiben. Die Auffas-
sung vollends, die Görland von Sophokles hat, ist nur dann überhaupt begreiflich,
wenn man sich, wie er tut, ausschließlich an den Ödipus Tyrannos hält und nicht
einmal den Coloneus mit heranzieht. Wie kann man von moralischem Pessimismus
und Veräußerlichung der tragischen Idee bei dem Dichter sprechen, der das Wort
von »den ungeschriebenen und untrüglichen Gesetzen« in des Menschen Brust ge-
prägt und der überlieferten Satzung gegenübergestellt hat! Die Konstruktion Gör-
lands scheitert an den Tatsachen, darüber wird man auch bei dem besten Willen,
seinen Gedankengängen zu folgen, nicht hinwegkommen.

Weniger originell, aber besser begründet ist die Behandlung Shakespeares.
Hier vermag man Görlands Auffassung, wenn auch nicht in allem einzelnen, so doch
im wesentlichen beizustimmen. Das Schicksal bedeutet ihm hier, entsprechend
der Grundtendenz der Renaissanceepoche, »den individuellen Widerpart gewaltiger
Individualität«. Dieser Gedanke wird mit Geist nnd Glück ausgeführt, freilich nicht
ohne Einseitigkeit, wie denn die Bedeutung der göttlichen Gerechtigkeit für
Shakespeares Weltanschauung einfach beiseite geschoben wird. Auch ist die Be-
hauptung sicherlich nicht zu erweisen, »daß, was man moralische Schuld nennt,
mit der Schuld im tragischen Sinne bei Shakespeare nichts zu tun« habe. Dennoch
ist der Grundgedanke, daß Shakespeares Menschen Naturgewalten sind und als
solche das Schicksal verkörpern, richtig. Und wenn man von der freilich ganz ver-
fehlten Analyse des Macbeth absieht, dürfte die Behandlung Shakespeares das Ein-
leuchtendste und Sachentsprechendste sein, was das Buch enthält.

Shakespeare gegenüber bezeichnet Schiller insofern eine neue Entwicklungs-
stufe, als die tragischen Kämpfe und Gegensätze in seinen Dramen nicht mehr
rein individueller Art sind. »Seine Menschen werden Sachwalter weit reichender
gedanklicher, dem Individuellen entwachsener Motive«, durch deren Gegensätzlich-
keit die Tragik bestimmt ist. Am klarsten weist Görland das am Don Carlos nach
und besonders die Großinquisitorszene, die so oft vernachlässigte oder übersehene,
weiß er in ihrer monumentalen Bedeutsamkeit nach Gebühr zu würdigen. Dagegen
fällt das ablehnende und wenig verständnisvolle Urteil über Kabale und Liebe auf.
Merkwürdigerweise verkennt Görland, daß unter den Jugenddramen Schillers gerade
dieses mit ebensoviel Gestaltungskraft wie Schärfe des Blicks Menschen einander
gegenüberstellt, welche die entgegengesetzten Lebensanschauungen und Bestrebungen
des Zeitalters verkörpern.

Auffallender freilich noch, ja geradezu paradox ist es, daß in einer Monographie
der tragischen Schicksalsidee die Braut von Messina nicht behandelt wird und daß
ein Schüler Kants und Marburgs über das Problem des Wallenstein und die
Gestalt des Max Piccolomini mit einer kurz abweisenden Wendung hinweggeht. Ich
gestehe, daß mir diese Wendung unverständlich geblieben ist und ich die Lücke
schwer als eine solche empfinde. Überhaupt aber ist es unverkennbar, wie der Gesichts-
punkt, unter dem die Tragödie betrachtet wird, sich bei der Behandlung Schillers
und später Hebbels verengt. Es entspricht der ursprünglichen Absicht des Ver-
fassers, wenn es ihm darauf ankommt: »wie der Dramatiker den unentwirrbaren
Gegensatz von Wille und Schicksal aus dem Geiste seiner Zeit gestaltet.« Aber
das ist doch keineswegs dasselbe, als wenn man das Wesen der Tragödie aus-
schließlich in der Gegensätzlichkeit geschichtlich entwickelter Werturteile (Ideen)
 
Annotationen