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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Utitz, Emil: Vom Schaffen des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0429
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422 EMIL UTITZ.

anderseits wieder das systematische Wissen abhängig ist von dem
lebendigen Erfassen der einzelnen Lebenseinheit.«

VII.

Zahlreiche Forscher haben in einem gewissen pathologischen Zug
eine Wesenseigenschaft des Künstlers zu erkennen geglaubt. Zuerst
(und an diese ganz einfache Unterscheidung hat man überraschender-
weise häufig vergessen) ist doch nicht alles »Nicht-normale« schon
pathologisch. Der über ein den Durchschnitt weit überragendes Ge-
dächtnis Verfügende ist deswegen ebensowenig pathologisch, als der
für Gehörseindrücke ungemein Empfindliche. Der Gegensatz von »nor-
mal« ist nicht »pathologisch«, sondern »über-« oder »unter-normal«.
»Gesund« und »krankhaft«; das sind die wahren Gegensätze, die trotz
enger Beziehungen doch nicht mit dem erst genannten Gegensatzpaar
zusammenfallen. Das absolute Tonerkennen ist keineswegs normal,
aber auch keineswegs krankhaft. Daß es nichts »normales« ist, die
Neunte Beethovens zu komponieren oder Goethes Faust zu dichten,
das bedarf keines Beweises; aber ist dazu ein krankhafter Zug not-
wendig? Nur das kann in Frage stehen. Aus ähnlichen Erwägungen
heraus lehnt William Stern1) die Auffassung ab, die »normal« mit
»durchschnittlich« identifiziert. Sondern »um ... zum Kern des Nor-
malitätsbegriffes vozudringen, müssen wir uns daran erinnern, daß sich
,normal' von Norm herleitet. Norm aber ist kein statistischer, sondern
ein teleologischer Begriff. Für jeden Menschen bestehen — ganz ab-
gesehen von seiner singulären Aufgabe der Individualität — gewisse
Zielsetzungen allgemeiner Art: die eigene Selbsterhaltung und Selbst-
entfaltung, die Einordnung seines Daseins in die sozialen Gemein-
schaften. Der Mensch, dessen geistig-körperliches Funktionieren im
ganzen genommen diesen Zielsetzungen angepaßt ist, ist normal ...
Und sofern eine Einzelfunktion dem Spezialzweck, den sie innerhalb
des Gesamtorganismus zu erfüllen hat, angepaßt ist, ist sie normal.«
Und diese Auffassung haben sich die Kunstforscher mit Recht zu
eigen gemacht, die einen pathologischen Wesenszug des künstlerischen
Schaffens ablehnen, so z. B. Max Dessoir2): »Nennen wir normal nicht
das zahlenmäßige Mittel, sondern das teleologisch Bedeutsame, so
können wir den genialen Menschen trotz aller seiner Krankheits-
erscheinungen und Wunderlichkeiten als normal bezeichnen. Denn
es kommt nicht darauf an, wie jemand gebaut ist, oder sich fühlt,

') Die differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, 1911,
S. 155 ff.

2) a. a. O. S. 263.
 
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