88 BEMERKUNGEN.
Werke Rodins, nicht nur für freiräumige Aufstellung und die Betrachtung von allen
Seiten, sondern auch für wechselnde Beleuchtung und gewaltige Licht- und Schatten-
kontraste berechnet. Die Bindung von Körper und Raum ist hier eine ganz andere
als in der Reliefanschauung, und zwar eine malerische. Sie bieten dem Auge zu
jeder Tageszeit eine Reihe ungerahmter Bilder. Dadurch sind sie auch zu dem
dahinter stehenden Rathaus in ein annehmbares Verhältnis gebracht. Sie machen
also das von Hildebrand aufgestellte Gesetz, daß plastische Gestalten nicht handelnd
gegen Architektur gesetzt werden dürfen, noch nicht hinfällig, wie Bosselt glaubt.
Als Reliefbild bleibt auch Bartholomees Monument aux Morts noch erträglich,
wenn es auch schon an der Grenze steht, die Canova mit seinem Grabmal der
Maria Christine in Wien unter der unveränderlichen Beleuchtung des Kirchenraumes
schon überschritten hat.
Diese Tatsachen muß man im Auge behalten, wenn man wie Bosselt den Gegen-
satz zwischen Hildebrand und Rodin als einen grundsätzlichen auffaßt und für diesen
oder jenen Partei nehmen will. Wir stehen bei ihm vor der Frage, gibt es allge-
meingültige Gestaltungsgesetze der Plastik, gleichviel, welche seelischen Kräfte in
ihr nach Ausdruck ringen? Daß solche Gesetze vor der Technik eines bestimmten
Stoffes eindeutig abzuleiten sind, widerlegt er überzeugend durch den Hinweis auf
die verschiedenartige Behandlung, die vor allem der Stein zu verschiedenen Zeiten
erfahren hat. Wie steht es aber um das vermeintliche Gesetz der Raumeinheit, das
Hildebrand in der Plastik aller Zeiten erfüllt sehen will? Man wird es nicht ohne
weiteres mit der Reliefanschauung und Ansichtsforderung gleichsetzen dürfen.
Denn gerade Michelangelo, der durchaus von der Sehvorstellung ausgeht, verwirk-
licht es am vollkommensten, indem er im engsten Raum das reichste körperliche
Leben entwickelt. Gleichwohl gilt von ihm im vollen Maße, was Bosselt von Rodin
sagt, daß er Unsichtbares durch Sichtbares ausdrücken will und, wie Rodin selbst
von ihm sagt, den Willen zur Tat ohne Aussicht auf Erfolg. Daß jede Haltung
des Menschen zugleich einen seelischen Zustand ausdrückt, haben aber alle wahren
Bildhauer schon vor Rodin gewußt. Bosselt erkennt es auch Hildebrand zu, wenn
das Seelische bei ihm gleichsam nur einen Nebenwert bedeuten soll. Das Gegen-
beispiel von Michelangelo beweist jedoch, daß der größere oder geringere geistige
Gehalt des Bildwerks nicht im geraden oder umgekehrten Verhältnis zum Gestal-
tungsgesetz der Raumeinheit steht, und daß die Werke Rodins ihn nicht dem Um-
stände verdanken, daß er sich scheinbar an keine Regel bindet. Richtig ist vielmehr
daran, daß man jenes Gesetz überhaupt nicht für ein allgemeingültiges und aus-
schließliches erklären darf, ihm steht vielmehr als entgegengesetzte Gestaltungsrich-
tung der Drang nach stärkster räumlicher Entfaltung des menschlichen Körpers
gegenüber, wie er sowohl in der Antike als in neuzeitlicher und moderner Plastik
zur Geltung kommt. Für sämtliche Schöpfungen der Skulptur aber, die sich zwischen
diese Gegenpole einordnen, wird man doch die Ansichtsforderung anerkennen
müssen, mit dem allerdings tiefgehenden Unterschiede, daß nur in den aus der
Reliefanschauung geborenen sich der plastische Gehalt in einer Hauptansicht rest-
los offenbart. Bei den aus der Sehvorstellung hervorgegangenen bleibt hingegen
für jeden Standpunkt stets ein Rest der Gesamterscheinung verborgen. Darin liegt
aber nur ein Antrieb der Unruhe, der den Beschauer nötigt, das Werk im Herum-
gehen und Zeitablauf vollständig in sich aufzunehmen. Bis zum Quälenden mag
dieses Gefühl sich dem Naturvorbild und dem allzusehr von ihm abhängigen Bild-
werk gegenüber steigern.
Bedingt ist die Ansichtsforderung durch die Doppelung unserer Anschauungs-
weise, zwar nicht in dem Sinne, daß wir das Fernbild (beziehungsweise die Sehform)
Werke Rodins, nicht nur für freiräumige Aufstellung und die Betrachtung von allen
Seiten, sondern auch für wechselnde Beleuchtung und gewaltige Licht- und Schatten-
kontraste berechnet. Die Bindung von Körper und Raum ist hier eine ganz andere
als in der Reliefanschauung, und zwar eine malerische. Sie bieten dem Auge zu
jeder Tageszeit eine Reihe ungerahmter Bilder. Dadurch sind sie auch zu dem
dahinter stehenden Rathaus in ein annehmbares Verhältnis gebracht. Sie machen
also das von Hildebrand aufgestellte Gesetz, daß plastische Gestalten nicht handelnd
gegen Architektur gesetzt werden dürfen, noch nicht hinfällig, wie Bosselt glaubt.
Als Reliefbild bleibt auch Bartholomees Monument aux Morts noch erträglich,
wenn es auch schon an der Grenze steht, die Canova mit seinem Grabmal der
Maria Christine in Wien unter der unveränderlichen Beleuchtung des Kirchenraumes
schon überschritten hat.
Diese Tatsachen muß man im Auge behalten, wenn man wie Bosselt den Gegen-
satz zwischen Hildebrand und Rodin als einen grundsätzlichen auffaßt und für diesen
oder jenen Partei nehmen will. Wir stehen bei ihm vor der Frage, gibt es allge-
meingültige Gestaltungsgesetze der Plastik, gleichviel, welche seelischen Kräfte in
ihr nach Ausdruck ringen? Daß solche Gesetze vor der Technik eines bestimmten
Stoffes eindeutig abzuleiten sind, widerlegt er überzeugend durch den Hinweis auf
die verschiedenartige Behandlung, die vor allem der Stein zu verschiedenen Zeiten
erfahren hat. Wie steht es aber um das vermeintliche Gesetz der Raumeinheit, das
Hildebrand in der Plastik aller Zeiten erfüllt sehen will? Man wird es nicht ohne
weiteres mit der Reliefanschauung und Ansichtsforderung gleichsetzen dürfen.
Denn gerade Michelangelo, der durchaus von der Sehvorstellung ausgeht, verwirk-
licht es am vollkommensten, indem er im engsten Raum das reichste körperliche
Leben entwickelt. Gleichwohl gilt von ihm im vollen Maße, was Bosselt von Rodin
sagt, daß er Unsichtbares durch Sichtbares ausdrücken will und, wie Rodin selbst
von ihm sagt, den Willen zur Tat ohne Aussicht auf Erfolg. Daß jede Haltung
des Menschen zugleich einen seelischen Zustand ausdrückt, haben aber alle wahren
Bildhauer schon vor Rodin gewußt. Bosselt erkennt es auch Hildebrand zu, wenn
das Seelische bei ihm gleichsam nur einen Nebenwert bedeuten soll. Das Gegen-
beispiel von Michelangelo beweist jedoch, daß der größere oder geringere geistige
Gehalt des Bildwerks nicht im geraden oder umgekehrten Verhältnis zum Gestal-
tungsgesetz der Raumeinheit steht, und daß die Werke Rodins ihn nicht dem Um-
stände verdanken, daß er sich scheinbar an keine Regel bindet. Richtig ist vielmehr
daran, daß man jenes Gesetz überhaupt nicht für ein allgemeingültiges und aus-
schließliches erklären darf, ihm steht vielmehr als entgegengesetzte Gestaltungsrich-
tung der Drang nach stärkster räumlicher Entfaltung des menschlichen Körpers
gegenüber, wie er sowohl in der Antike als in neuzeitlicher und moderner Plastik
zur Geltung kommt. Für sämtliche Schöpfungen der Skulptur aber, die sich zwischen
diese Gegenpole einordnen, wird man doch die Ansichtsforderung anerkennen
müssen, mit dem allerdings tiefgehenden Unterschiede, daß nur in den aus der
Reliefanschauung geborenen sich der plastische Gehalt in einer Hauptansicht rest-
los offenbart. Bei den aus der Sehvorstellung hervorgegangenen bleibt hingegen
für jeden Standpunkt stets ein Rest der Gesamterscheinung verborgen. Darin liegt
aber nur ein Antrieb der Unruhe, der den Beschauer nötigt, das Werk im Herum-
gehen und Zeitablauf vollständig in sich aufzunehmen. Bis zum Quälenden mag
dieses Gefühl sich dem Naturvorbild und dem allzusehr von ihm abhängigen Bild-
werk gegenüber steigern.
Bedingt ist die Ansichtsforderung durch die Doppelung unserer Anschauungs-
weise, zwar nicht in dem Sinne, daß wir das Fernbild (beziehungsweise die Sehform)