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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0423
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BESPRECHUNGEN. 417

sam Italien für jene Würdigung seines großen und in seinem Volke ganz lebendigen
Dichters. Daß Goethe, der Schöpfer des Begriffes der Weltliteratur, auch von Nicht-
deutschen nicht allein gelesen, sondern studiert wird, ist uns seit Carlyles »Lectures
°n Goethe*, vertraut. Ein Engländer, Lewes, hat vor Jahrzehnten eine Goethe-Bio-
graphie geschrieben, die lange Zeit in Deutschland sehr verbreitet war, bis sie durch
Besseres verdrängt wurde. Croce nun ist bei uns seit Jahren als Ästhetiker bekannt,
und er legt Wert darauf. Er hat, wie der Übersetzer seiner Goethe-Studie hervor-
hebt, im zweiten Jahr des Krieges den Schlußband seiner »Philosophie des Geistes«:
zuerst in deutscher Sprache erscheinen lassen. Er selber sagt in der Vorrede seines
Qoethe-Buches, daß er in trüben Tagen des Weltkrieges aus Goethes Werken so viel
Erleichterung und Erquickung gewonnen habe, wie sie ihm wohl kein zweiter Dichter
•n solchem Maße hätte gewähren können — ein Zeugnis seiner eigenen Geistes-
ireiheit. Denn er setzt hinzu, daß er es als Glück empfunden habe, unter den großen
Richtern wenigstens einen zu finden, der, in jeder Form der Menschlichkeit zu
nause wie kein zweiter, dennoch in seiner Seele sich außerhalb der politischen
^regung und über sie gestellt habe. Man sieht wieder einmal, wie Goethe ge-
rade durch dieses, in Deutschland viel angefochtene Verhalten für deutsches Wesen
gewirkt hat.

Croce will kein Goethe-Philologe sein und meint, daß die Goethe-Literatur alles
Maß überschreite und sich vielfach in Nichtigkeiten verloren habe. Allein nicht alles,
Worum er sich nicht kümmert, muß als nichtig gelten. Der Begriff dessen, was
lichtig sei, ist relativ und individuell, und auch etwas ziemlich Nichtiges kann in
größeren Zusammenhängen Sinn bekommen. Zuzugeben ist, daß die Goethe-
Philologen in ihrer subjektiven Einstellung oft kleinlich gewesen sind. Aber es ist
sozusagen ein Geschenk des gewaltigen Stoffes, daß sogar die geringfügigsten Bei-
lage, mögen sie selbst aus einer untergeordneten Gesinnung entstanden sein, in-
direkt helfen können, bedeutendere Dinge zu erhellen. Croce will indessen nur
auf das Wesentliche eingehen, und das ist ihm ausschließlich Goethes Kunst, nicht
auch das Leben Goethes. Es wird kaum auszumachen sein, was mehr und höhere
Werte birgt, die Kunst Goethes oder das Gesamtbild seines Lebens; beide sind so
groß, daß sie auch miteinander kaum zu messen sind. Doch wenn man einmal
v°n der Kunst eines Dichters reden will, soll man freilich vor allem von ihr sprechen
Und sich tunlichst auf sie konzentrieren. Gewisse Funde sind überhaupt nur auf
diese Art möglich. Es ist dem Referenten eine erwünschte Bestätigung eigener,
anderswo ausgesprochener Überzeugungen, wenn Croce betont, daß die biogra-
phische Untersuchung vielfach die reine Betrachtung des Künstlerischen überwuchert
Und erstickt hat. Die »Erklärung« der Werke durch das außerkünstlerische Leben
des Dichters hat sich oft an die Stelle der ästhetischen Durchleuchtung gesetzt und
den Wahn erzeugt, als sei diese damit erledigt. »Aber der biographische Werde-
gang bleibt äußerlich Werken gegenüber, in denen die persönliche Erfahrung so
vöHig im künstlerischen Gedanken aufgeht wie im Werther« ; und in anderen Werken
Goethes ist es ebenso. Es ist auch ein Verdienst Croces, wenn er wieder einmal
darauf dringt, daß man in einem Dichter nicht das sucht, was er gewollt oder von
sich ausgesagt hat, sondern was er wirklich geschaffen hat. Und er ist im Recht,
Wenn erfordert, daß sich die Literaturwissenschaft auch Goethe gegenüber nicht
von der rein künstlerischen Betrachtung als ihrer eigensten Aufgabe abbringen lasse.
*Wohl muß sie immer den Blick auf das Gesamtbild von Goethes Persönlichkeit
richten, aber zu dem einzigen Zweck, um verstehen zu lernen, wie diese in den
verschiedenen Zeiträumen die verschiedenen Formen seiner Kunst vorbereitet, oder
w,e sie diese unterbricht, ja selbst zuweilen stört und schädigt.« Dieses »einzige

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XVI. 27
 
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