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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Besprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0424

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418 BESPRECHUNGEN.

erscheint mir allerdings, zumal gegenüber Goethe, zu rigoros, aber die weitere Aus-
führung der letzten Worte verdient beachtet zu werden.

Croce legt nämlich dar, daß Goethes Leben gewissermaßen die Kunst auf-
gezehrt oder wenigstens ihr Wachstum und Reifwerden behindert habe. Das über-
rascht zunächst, wird aber so begründet: Das fortwährende Sichselbstüberwinden,
das Herzschlag und Gesetz in Goethes Leben war, ließ ihn niemals sehr lange mit
einem poetischen Gedanken sich tragen, der viele Jahre ausschließlicher Hingebung
erfordert hätte, um endgültige Form anzunehmen. Dies kann nur heißen, daß Goethe
mit Gedanken, die derartiges erforderten, sich nicht getragen habe, wie es etwa
Dante getan hat, an den Croce offenbar denkt; es darf aber nicht so verstanden
werden, als ob Goethe Gedanken, die eigentlich ein viel längeres Austragen ver-
langt hätten, übereilt gestaltet hätte, denn das wäre falsch. Croce erinnert an Faust,
und zwar auch an den Urfaust, in dem bereits mehr als eine geistige Stufe und
mehr als ein dichterischer Leitgedanke fühlbar werden. ^Nur hat Goethe, statt
Bruchstück Bruchstück, das nicht mehr zu Vollendende unvollendet zu lassen, sich
des öfteren bemüht — und das ist vielleicht an ihm eine der ganz wenigen Spuren
der Gepflogenheit, die bei dem Volke, dem er angehört, nicht allzu selten ist —
voll grilliger Launen jenen Bruchstücken mit verschieden gearteten, unter sich un-
stimmigen Zügen gekünstelte Einheit, gekünstelten Abschluß zu geben.« Das trifft
bei Faust zu, aber es kann keine Rede davon sein, als ob in allen Werken Goethes
Brüche wären oder ganz verschiedene Stile einander ablösten. Doch behauptet
Croce, die Beispiele seien zahlreich, führt indes weiterhin nur noch die Lehrjahre
und den Tasso an. Recht hat er, wenn er dagegen protestiert, daß man die Ein-
heit der Fausttragödie in der Person und Entwicklung des Dichters finden wolle*
also außerhalb des Werkes — dichterische Einheit hat mit der Einheit eines wirk-
lichen Menschenlebens nichts zu tun. Nur fällt Croce gegenüber solchen Versuchen,
künstlerische Lücken mit Lebensstoff auszufüllen, wieder in ein anderes Extrem,
wenn er meint, der biographische Werdegang sei »gewiß zuweilen mit Nutzen zu
betrachten, sofern er über gewisse künstlerische Unstimmigkeiten Aufschluß gibt,
die tatsächliche Rückstände im Gesamtkörper darstellen«; — das ist doch zuwenig,
da verführt ihn die Abneigung gegen biographische Untersuchungen zur Einseitig-
keit. Es ist gewiß richtig, wenn er umgekehrt feststellt, »daß es nicht angeht, das
Leben, das Goethe gelebt hat, zu begreifen, ohne das dichterische Werk, das er
hervorbrachte«, aber natürlich besteht eine Wechselwirkung hin und her.

Übrigens hat auch Croce sich nicht bloß mit Goethes künstlerischer Entwick-
lung beschäftigt. Er findet vortreffliche Worte über seine einzigartige und unver-
gleichlich erzieherische Art, geistig und sittlich zu leben. Er weiß: »Die großartige
sittliche und geistige Entwicklung, außerhalb und über der Poesie, gibt Goethe
jenes Gepräge, das ihn von anderen Dichtern seines Ranges trennt und ihn als
einzig erscheinen läßt.« Ja, er räumt sogar ein: »Das Hauptereignis im künstle-
rischen Werden Goethes ist gerade sein sittlicher Übergang von dem aufgeregte11
empörerischen und titanischen' Zustand ... zu dem ruhigen, abgeklärten und eben-
mäßigen, der sich in fast allen seinen späteren Werken ausdrückt.« Mir fehlt hier
die Bemerkung, daß diese Entwicklung typisch menschlich ist. Es fehlt aber Croc
nicht die Einsicht, daß der Übergang zu jener Reife gerade bei Goethe nichts Zu-
fälliges war. Er warnt davor, den Zusammenhang jener beiden Lebensabschnitte
wie einen Sprung über einen Abgrund aufzufassen, wie es so oft in der beliebten
Gegenüberstellung des jungen deutschen Goethe und des alten, antikisierenden,
sozusagen abtrünnig gewordenen oder von den Sirenen verführten Goethe geschient-
Croce hebt hervor, daß Goethe nur bedingt am Sturm und Drang teilgenomme
 
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