Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

DOI article:
Besprechungen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0101
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
BESPRECHUNGEN.

91

In der Schweiz beginnt Wagners schriftstellerische Tätigkeit. Sie bearbeitet nicht
politische, ästhetische, philosophische Probleme um ihrer selbst willen, sondern ist
ebenso Mittel des künstlerischen Schaffens wie das gesamte Erleben Wagners.
»Wenn Wagner philosophiert, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als
wenn er dichtet, komponiert, instrumentiert, Dekorationsskizzen zeichnet. Es ist ein
Wirken für das Theater mit Mitteln, die nur soweit Sinn und Bedeutung haben,
als sie diesem Theater zu dienen vermögen.« Denn das Theater war der Mittel-
punkt seines Wesens; im Theater stellte sich ihm die Welt dar. »Alles, was er
erfaßte, gleichviel ob Politik, Philosophie, Gesellschaftslehre, Kunst, Religion, konnte
für ihn sinnlich ergreifbare Bedeutung nur gewinnen, indem es neue Quellen des
theatralischen Geschehens erschloß.« Das Ergebnis der schriftstellerischen Tätigkeit
ist die Befreiung des Dresdener »Siegfried«-Entwurfes vom Politisch-Tendenziösen
und Konventionellen, seine Zurückführung auf seine Gefühlsquellen, auf das, was
Wagner das »Reinmenschliche« nennt. Dadurch steigt der »junge Siegfried« auf,
dem sich Wagner in seiner neu erwachten Kraft überaus verwandt fühlt. Das Weiter-
schaffen ist möglich geworden. Nach rückwärts bauend, gewinnt Wagner »Walküre«
und »Rheingold«. Die Komposition des »Rheingoldes« gelingt im ersten Ansturm
des von seinem Schaffen Vollgesogenen, und die »Walküre«-Musik erwächst mühe-
los aus dem Bekenntnisdrang des Erlebnisses mit Jessie Laussot und der erwachen-
den Liebe zu Mathilde Wesendonck: »aus Jessie—Sieglinde und Mathilde—Brünnhilde
vollendet sich das musikalische Schicksal Siegmunds und Wotans«; denn nur aus
den Frauengestalten wächst die lösende Musik. Der »junge Siegfried« gestaltet
sich, soweit Tatenlust und unbändiges Freiheitsgefühl des dem Dresdener Zwange
Entronnenen die Impulse geben. Wo aber das Naturgebot Siegfried aus seiner Ein-
samkeit hinaus ins Leben, zum Weibe treibt, — da bricht Wagner entmutigt ab.
Es ist nicht, wie er meint, Erkenntnis der äußeren Zwecklosigkeit seines Vorhabens,
— es ist Mangel an Erlebnisstoff, der ihn am Betreten der neuen Welt hindert.
Ehe der dritte »Siegfried«-Akt und die »Götterdämmerung«, in deren Mittelpunkt
nicht mehr Siegfried, sondern Brünnhilde steht, geformt werden können, muß das
Wesen des opferbereiten Weibes erlebt sein.

Die Leidenschaft der Tat, der tragende Grundpfeiler der »Ring«-Schöpfung,
bricht zusammen. Es überkommt Wagner eine tiefe Sehnsucht nach tätigem Wirken,
die bis zur Schwermut anwächst. Am Erlebnis der Schopenhauerischen Philosophie
und am Bilde einer Frau, die Liebe weckt, ohne dem Liebenden gehören zu dürfen,
wächst dieses Grundgefühl der Sehnsucht empor. Eine alte Fabel gibt den Stoff:
es entsteht »Tristan und Isolde«.

Das Weiterwirken der »Tristan«-Kräfte auch über die Vollendung des Werkes
hinaus treibt Wagner einem neuen Erlebnisse zu, an dem sie sich neu entfalten
können. Die »Tannhäuser«-Aufführung ruft ihn nach Paris. Die Sphäre der Pariser
Geselligkeit tut sich auf mit den Reizen einer magischen Szene. Mathildes Bild ver-
blaßt: Liszts Tochter Blandine fesselt durch kokette Grazie. Eine alte Szene, neu
erschaut, formt sich: zum »Venusberg«. Das Scheinkompromiß der neuen Szene als
Ersatz des in Paris verlangten Wartburg-Balletts ist in Wahrheit nur Anstoß zu
einer Musik, die längst in Wagner schlummerte und deren Drängen ihn in die lust-
reizende Atmosphäre von Paris getrieben hatte.

Als Tannhäuser nun aber zum zweiten Male den Venusberg verläßt, da wird
jenes Bild faßbar, das sich bereits nach dem Dresdener »Tannhäuser« als Vision
gezeigt hatte: das Bild der »Meistersinger«welt. Der Weg vom »Tristan« durch den
»Venusberg« zu den »Meistersingern« ist der innere Sinn des Pariser Geschehens.
Er formt die äußeren Vorgänge.
 
Annotationen