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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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90

BESPRECHUNGEN.

Wagner entstammt einer Theaterfamilie und wächst in engster Berührung mit
der Bühne auf. Aus der Welt des Theaters erfaßt er sein Dasein: der Eindruck
Shakespeares und die szenische Musik Beethovens wirken zusammen und be-
stimmen seine Entwicklung. Die musikalische Veranlagung Wagners drängt nur
scheinbar spät hervor: sie übt sich bereits früh, nur eben nicht am Formenspiel
der Töne, sondern am Spiel der szenischen Bilder. Denn das Bild ist für Wagner
Fixierung des Ausdruckes der Musik.

Voraussetzung der Ausdrucksgestaltung, so sahen wir, ist Eindrucksgewinnung.
Erst in der zweiten Hälfte seines Lebens gewinnt Wagner diese Eindrücke unmittel-
bar aus dem eigenen Erleben. In der ersten Hälfte bestimmen den Schaffensimpuls
künstlerische Eindrücke. Alle sich darbietenden Muster von Kunstwerken und Kunst-
gattungen werden von dem allzeit aufnahmegierigen Empfängnisvermögen aufge-
griffen und nachgeahmt. Als der Stoif aller künstlerischen Vorbilder erschöpft ist, setzt
die erlebnishafte Steigerung ein. Von den urbestimmenden Eindrücken Shakespeares
und Beethovens auf das erregte Knabengemüt schweift die Phantasie zur Romantik
Webers und Marschners, zur üppigen italienisch-französischen Oper, endlich zum
Pathos der großen Oper. Das ist die Linie, die sich vom »Leubald«, der C-dur-Sin-
fonie und der »Hochzeit« über die »Feen« und das »Liebesverbot« zum »Rienzi« zieht.

In der Gestalt Rienzis wächst die erste eigene Maske heran. Der Ehrgeiz des
Helden überträgt sich auf den Schöpfer selbst. Eine höchste theatralische Region
soll gewonnen, ein Werk geschaffen werden, das alles Dagewesene in den Schatten
stellt. Paris identifiziert sich mit Rom, die Große Oper ist das zu erobernde Kapitol,
das deutsche Theater ein schlechtes Patriziat, Befreier und Eroberer der Komponist
selbst. Alles ist mächtiger Schwung, Wille zur Größe. Der erste Teil, »Rienzis
Größe«, wird in Riga geschaffen. Als der Gipfel erklommen ist, muß die Vision
erfüllt werden: Wagner reist nach Paris. Hier aber, im Kampf mit zahllosen Widrig-
keiten, erlischt der Begeisterungstaumel. Das Menschlich-Gewöhnliche wird erkenn-
bar hinter der stolzen Fassade des Kapitals. Rienzis Traumbild ist zerstört. Sein
Todesfluch gegen Rom, der ahnend im Textentwurf vorausgenommene, wird Er-
lebniswahrheit: es entsteht »Rienzis Fall«. Das Werk wird vollendet, aber nicht für
Paris, sondern für das in Dresden neu errichtete Opernhaus.

Ein neues Erlebnis hatte sich auf der Fahrt nach Paris in die Seele gesenkt.
Zunächst durch den »Rienzi« zurückgedrängt, erwacht es durch die Pariser Schick-
sale zu neuer Faßbarkeit. Denn die Sehnsucht nach der Ferne ist geblieben. In
Deutschland hieß sie: Paris, in Paris heißt sie: Deutschland. Diese Sehnsucht wird
immer bleiben, denn sie ist Sehnsucht nach einem Phantasieziele, das die Wirklich-
keit nicht gewährt. Alles Wirkliche ist nur Sprungbrett zur Uhwirklichkeit der Traum-
vorstellung. Ruhe ist dieser Phantasie nur beschieden, wo eine andere sie durch
liebenden Glauben vom Fluche des Getriebenwerdens erlöst. Dieser Traum erfüllt
sich: »Rienzi« wird in Dresden angenommen. Ein neuer Erlebniskreis ist durch-
schritten. Im Anstürme ungeheuren Kraftgefühles entsteht in sieben Wochen: »Der
fliegende Holländer«.

Die Dresdener Zeit der Scheinerfüllung führt Wagner in ein Leben des Ge-
nusses, aus dem die allmählich anwachsende Katastrophe ihn heraustreibt. Nach
einer Zeit tiefer Enttäuschung entführt ihn die Welle der Revolution ins Exil. Das
ist der Weg über den »Tannhäuser«, in dem sich die Abkehr von der Gegenwart
vollzieht, über den »Lohengrin«, den Einsamkeitsgesang schmerzlich enttäuschter
Sehnsucht nach Liebe und Glauben, und die Entwürfe von »Siegfrieds Tod« und
»Jesus von Nazareth«, die, dem äußeren Erleben entsprechend, die »Lohengrin«-
Tragik noch verschärfen.
 
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