Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

DOI Artikel:
Dessoir, Max: Kunstgeschichte und Kunstsystematik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0143

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Max Dessoir:
Kunstgeschichte und Kunstsystematik.

Schon bei den ersten beiden Ästhetikerkongressen ist es mir ver-
gönnt gewesen, im Anschluß an die jeweils neuesten Forschungen
über den Gegenstand zu sprechen, der im Titel des heutigen Vortrags
ohne Umschweif angegeben wird. Auch diesmal werde ich grundsätz-
lich nichts anderes sagen als früher. Trotzdem brauche ich nicht zu
fürchten, daß die Wiederholung als unnütz erscheinen wird, denn der
Wahrheit ist Eile verhaßt.

An den Anfang stelle ich einen die Überschrift erläuternden Satz.
Die Kunst, als ein Teil der vom Menschen frei und bewußt erschaf-
fenen Welt, wird gleich den übrigen Gebieten der geistigen Kultur in
zweifacher Weise von der Wissenschaft ergriffen: als eine historische
Tatsache und als ein systematisch bestimmbares Gebilde. Obwohl noch
immer die geschichtliche Auffassung den Vorrang hat, so besteht doch
grundsätzlich kein Streit über die doppelte Möglichkeit, Kunst zu er-
kennen. Ebensowenig unterliegt es einem Zweifel, daß beide Sehweisen
die Eigentümlichkeit der Kunst erfassen müssen. Indessen nicht selten
ist die eine wie die andere Behandlung in Gefahr geraten, die Sonderart
der Kunst zu zerstören oder mindestens zu verdecken. Hierüber muß
zunächst gesprochen werden, denn aller Nachdruck gebührt der Ein-
sicht, daß die Kunst ein ursprüngliches Wesen hat und von ihrem
Erforscher, sei er Historiker oder Systematiker, Anerkennung dieses
Wesens verlangt.

Geschichte der Kunst läßt sich so treiben, daß man die bild-
nerischen, dichterischen, musikalischen Leistungen eines Volkes ganz
und gar in die Schilderung seines geistigen Lebens hineinnimmt. So
kann beispielsweise die Musik der Primitiven als beiläufiger Ausdruck
primitiver Geistesart überhaupt dargestellt, und es kann — mit sprach-
lich verunglückter Wendung — von »musikalischer Völkerkunde« ge-
redet werden. Die bildende Kunst der Griechen wird im Zusammen-
hang der Altertumswissenschaft erforscht; der zünftige Archäolog fühlt
sich dem Altphilologen und Althistoriker näher verwandt als den win-
digen Gesellen, die über Expressionismus und neue Sachlichkeit
schreiben. Selbst ein Jakob Burckhardt verschmilzt die Kunst so völlig
mit dem Gesamtzustand einer Zeit, daß er Merkmale einer bestimmten
Kunstweise, nämlich Reichtum an Formen, Verarmung im Gehalt, dazu
 
Annotationen