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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0099

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BESPRECHUNGEN.

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wirkt organisch weiter: die Musik erlöst die Ausdrucksspannung; innerhalb der
Musik löst das Wort den Ton aus klanglicher Begrifflosigkeit zu verdeutlichender
Begrifflichkeit des Gefühls. Das Wort wächst aus dem Ton. Die zuerst nieder-
geschriebene Dichtung enthält die große Melodie des Werkes. Eine neue Art der
Sprachbehandlung entsteht: musikalische Gesetze formen die Wortfolge. Im »Ring«
glaubt Wagner Wort und Ton durch Alliteration am innigsten verschmelzen zu
können. Im »Tristan« quellen die Worte rein gefühlsmäßig, ohne logische Rück-
sichten. Die »Meistersinger«-Sprache ist plastische Gedrängtheit als Mittel gestei-
gerter Realitätswirkung. Der »Parsifal« faßt alle gewonnenen Erkenntnisse zusammen.

Illusionsweckung, Veranschaulichung ist Ziel dieser Musik. Der Klangorganis-
mus wird darum nach dem Gebote des Veranschaulichungswillens geformt. Die
Wortmelodie muß als anschauliche Gestalt aus dem sie erzeugenden Klangorganis-
mus sinnfällig herauswachsen, sich in ihm wie in einem Räume bewegen können:
die Vorstellung des magischen Tonraumes bildet sich. »Musik als Formkomplex
wird zum Illusionsgebilde gegenständlicher Schaubarkeit, dimensional erfaßt.« Ge-
staltungsmittel dieses Raumes ist die Harmonie. Wagners Harmonik ist Raumempfin-
dung, seine Melodik Gestaltempfindung. Der Veranschaulichungswille treibt einer
immer vollkommeneren körperhaften Erfassung der Harmonie zu. Im »Holländer«
noch umschreibt die leidenschaftliche d-moll-Bewegung den klanglichen Handlungs-
raum. Im »Tannhäuser« wird die räumliche Vorstellbarkeit erzielt durch die Dynamik
von Nähe und Ferne, wie sie sich in der Ouvertüre ausprägt, im »Lohengrin« durch
die Vertikalrichtung solcher Dynamik, durch den Wechsel von Heben und Senken,
wie er das Vorspiel bestimmt. Ist Harmonie bis dahin nur nach allen Richtungen
bewegt, aber nie verändert, nie zerlegt worden, so wird jetzt das Übereinander von
Grundton, Terz und Quint in seiner räumlich illusionistischen Bedeutung erfaßt:
das elementare Beispiel dieser neuen Einstellung ist das >Rheingo!d«-Vorspiel. Nun
erfolgt der Ausbau dieser neu entdeckten Beziehungsmöglichkeiten. Die Töne fliehen
und suchen sich, Modulation sprengt den magischen Tonraum: »Tristan«-Chromatik,
ekstatische Leidenschaft. Dann aber wird die Harmonie wieder zusammengeschlossen
und polyphon aufgeteilt in sich festigendem, sich lösendem Spiel einheitlich gerich-
teter Tonbeziehungen. Es entsteht die musikalische Raumvorstellung der realistischen
Plastik und Gegenständlichkeit der »Meistersinger«-Welt. Mit dem stilisierenden
Mittel dieser polyphon diatonischen Harmonik wird der »Ring« zu Ende geführt.
»Parsifal« faßt alle Möglichkeiten zusammen, wie er auch als Erlebnis und als
sprachmelodische Form ein Rückblick ist.

Sind so Melodik und Harmonik, die Elemente der Musik, zu Veranschaulichungs-
mitteln im Dienste illusionistischer Theaterkunst gewandelt worden, so wird die
dritte Illusionsbedingung: die der zeitlichen Realität, gewonnen durch die Ver-
knüpfung von Erinnerung und Ahnung im Bewegungsablauf des Motivlebens. Auch
hier weist Beethoven den Weg mit dem thematischen Gestaltungsprinzip seiner
Sinfonik, das Wagner mit dem romantischen Erinnerungsmotiv zu seinem eindring-
lichen motivisch assoziativen Tonsymbol verschmilzt.

Tonräumliche und tonzeitliche Illusion ergeben in ihrem Ineinanderwirken erst
die Möglichkeit der Worttonmelodie, die in die Anschauungswelt hinüberleitet:
»damit führt sie zur höchsten erreichbaren Illusionsverwirklichung: zum szenisch
bewegten Bilde, zur sprachlich erläuterten Handlung als letztem Erlebnisausdruck.«

Unter diesem Blickpunkte entrollt Bekker nun Wagners Leben. Charakteristische
Einzelheiten daraus mögen die Fruchtbarkeit des Bekkerschen Grundgedankens zu
erweisen suchen.
 
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