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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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88

BESPRECHUNGEN.

Grundbedingung aller Bühnenwirkung ist die Täuschung. Wagner weiß dies
zwar, aber er sucht nicht, das Bewußtsein der Täuschung im Stile des Kunstwerkes
aufrechtzuerhalten: er sucht es vergessen zu machen. An Stelle der bewußten Un-
wirklichkeit — wie sie etwa die Oper Mozarts in idealer Weise wahrt — soll die
Vorspiegelung eines Wirklichen treten: das Theater bedeutet nicht, — es ist die
Welt. So wird Wagners Polemik gegen die Oper ebenso verständlich wie seine
Hinneigung zum Drama als der der Realität zugewandten Handlungsdarstellung.
Daraus folgt ferner seine Einschätzung des Theaters als Kultanstalt schlechthin,
seine Auffassung der Kunst — d. h. immer: seines kultischen Theaterwerkes — als
des Regenerationsmittels der Menschheit, seine Bewertung aller menschlichen Ver-
hältnisse und Erscheinungen aus der zentralen Erfassung dieses Kunstbegriffes.

»Nimmt man Wagners Kunst,« so erkennt Bekker, »in dieser Auffassung, seine
Werke als Dramen im Sinne der von ihm gemeinten seelischen Wahrhaftigkeit, die
Gestalten seiner Handlungen als Menschenbildungen, die Bekenntnisse der Dich-
tungen, die Lehren der Schriften als Bekenntnisse und Lehren im unmittelbaren
Sinne, so erscheint dies alles als ungeheurer Selbstbetrug. Er ruht auf dem funda-
mentalen Irrtum, daß eine bewußte Täuschung jemals absolute Wahrheit werden
könne . . . Eine Kunst aber, die den Glauben an die Täuschung als kunstethisches
Postulat aufstellt, verfällt selbst dem Grundgesetz der Täuschung: der Unwahrhaftigkeit.«

»In der Verkennung der naturbedingten Unwahrhaftigkeit des Theaters,« so
fährt Bekker fort, »lag der theoretische Irrtum Wagners. In der gleichen Verken-
nung wurzelt der Streit, den seine Erscheinung auslöste, indem die Täuschung von
Anhängern im Sinne seiner eigenen Interpretation als wahr genommen, von Gegnern
im gleichen Sinne als unwahr abgelehnt wurde. Es besteht kein Grund zu diesem
Streit, wenn man von der begriffliehen Interpretation der Persönlichkeit und des
Werkes absieht und an ihre Stelle die phantasiemäßige setzt. Dann erscheint
Wagner als das größte theatralische Genie der Neuzeit und sein theoretischer Irrtum
als unerläßliche Voraussetzung seines praktischen Schaffens. Mußte er sein eigenes
Leben in die Wagschale werfen, um zu seiner Kunst gelangen zu können, mußte
er den Glauben an eine absolute Wahrhaftigkeit seines Schaffens hegen und fordern,
wo doch nur Illusionstrug im Dienste der theatralischen Täuschung vorlag, wurden
dadurch alle Ekstasen seines Lebens nur zum Mittel, Theater zu spielen, so war
eben dies der Weg, dem Theater wieder eine neue Kunst großen Stiles zu ge-
winnen . . . Durch die Hinneigung zur Musik, die er als Kunst der stärksten
Täuschungskraft faßt, beweist Wagner die unreale Bedingtheit seines Schaffens,
seine Sendung nicht zum Ethiker, zum Regenerator, sondern zum Theatraliker, dem
die Wahrhaftigkeitsillusion als schöpferische Spürkraft gegeben ist, damit
er zur Täuschung des Spieles gelange.«

Das Gesetz des Wagnerischen Schaffens faßt Bekker daher folgendermaßen:
»Weil Wagner das Theater will, bedarf er des Mittels der Täuschung; weil er der
Täuschung bedarf, braucht er die Musik; weil er die Musik braucht, muß er die
Ausdrucksspannung gewinnen; und weil die Gewinnung des Ausdrucks das Erlebnis
fordert, setzt er, vom Dämon des Schaffenstriebes gezwungen, sein Leben ein.«

Ausdrucksspannung ist Krampf der Erlebniserregung. Um sich mitzuteilen, be-
darf er der Lösung. Diese Lösung gibt die Musik. Sie ist die Löserin, — die Er-
löserin: die Erlösungsidee ist nicht psychologisch gefunden worden; in ihrer Urform
ist sie Lösung der psychischen Ausdrucksspannung in tönende Klangbewegung.
Um aber zu höchster Ausdruckskundgebung zu gelangen, strebt die Musik zum
Worte. Beethoven erscheint darum so verehrungswürdig, weil er im Finale der
Neunten in höchster Not der Ausdrucksgebung zum Worte greift. Die Lösungsidee
 
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