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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0097

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BESPRECHUNGEN.

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gelangt in der Besonderheit ihrer Einstellung niemals zur Erfassung einer Kunst-
erscheinung, deren Wesen jenseits ihrer Ausdrucksfaktoren sich ausprägt. Dieses
Wesen aber einzig gilt es zu fassen. Wo das Kunstwerk Wagners in dieser seiner
Originalität erkannt zu werden schien, etwa als »Musik-« oder »Worttondrama«, da
pflegte eine solche Betrachtung sich auf eine Interpretation des Werkes nach den
Schriften Wagners zu beschränken. Es ist aber klar, daß eine solche, vom Geiste
Wagners erfüllte Betrachtungsweise der Wagnerschen Ideologie verfällt und zu wahr-
haft kritischen Erkenntnissen nicht vordringen kann. Es bedurfte eines Betrachters,
der zwar den intuitiven Blick für das Kernhafte, für die wurzelhafte Verbundenheit
aller Ausdrucksmittel dieser Kunst besitzt, aber diesen Blick nicht gewonnen hat
aus wagnerischer, sondern kritischer Auslegung der Schriften, die ihrerseits erst
eine fruchtbare Kritik des Werkes ermöglicht. Es mußte eine Einstellung zur Ge-
samtheit der Kundgebungen Wagnerischen Denkens und Fühlens erslrebt, es mußte
der elementare Künstlerwille erspürt werden, der gleichermaßen aus dem Werke
wie den Schriften spricht.

Ein solcher Betrachter ist uns in der Persönlichkeit Paul Bekkers gekommen,
eine solche Betrachtungsweise in seinem Buche »Wagner, Das Leben im Werke«.

Wagners Kunst ist Ausdruckskunst — diese scheinbar selbstverständliche Grund-
erkenntnis Bekkers ist es, die, in ihrer ganzen Bedeutungstiefe erfaßt, zu einer Schau
ebenso großartiger wie aufschlußreicher Perspektiven führt.

Musik als Ausdruck ist das Vermächtnis der Klassik an die Romantik. Die Ent-
wicklung von der klassischen Musik zur Romantik wird bezeichnet durch das Vor-
dringen des Ichs, das immer stärkere Beachtung verlangt. Tritt dort der Schaffende
hinter seinem Werke zurück, so wird nun das Werk' mehr und mehr Ausdruck
seines Erlebens. Es ist ein Wandel vom Ton als Phänomen zum Ton als Symbol,
von rein klanglicher zu bedeutungshafter Musik. Diese Kunst bedarf keiner dichte-
rischen Ideen und keiner musikalischen Eingebungen mehr, — sie bedarf allein des
Erlebens. Soll sie sich zum großen Kunstwerke formen, so fordert sie ein Tempera-
ment, das gefühlsmäßige Spannungen und Erschütterungen mit inbrünstiger Hin-
gabe an den Eindruck aufzunehmen und mit leidenschaftlicher Gewalt zurückzu-
geben, auszudrücken vermag. In Richard Wagners Natur nun, so sagt Bekker,
»liegt die Fähigkeit eines Erlebens, das an Bewegtheit und kühner Überraschungs-
kunst der Situationen das der großen Abenteurer des 18. Jahrhunderts, an Leidens-
fähigkeit und Seelenmarter das der Glaubensstreiter, an glühender Sinnlichkeit das
der üppigsten Genießer und Schwelger, an Gewalt der Ekstase das der mittelalter-
lichen Schwärmer fast übertrifft.« Dies alles wächst jedoch nicht aus der Nötigung
menschlichen Werdens. Die Persönlichkeit als solche steht abseits. Was sie gewinnt,
ist lediglich Steigerung der Resonanzfähigkeit, des Wandlungsvermögens. Nicht ihr
Erleben wird zur Kunst, sondern der künstlerische Ausdruckswille, wie er sich in
der Vision des szenischen Bildes, in der Konzeption des Handlungsgeschehens be-
kundet, zeichnet die Bahn des Erlebens vor. Der Ausdruckskünstler gestaltet, aus
tief in seinem Wesen begründeten Gesetzen, Gang und Ereignisse seines Lebens so,
daß sie zur Erfüllung der im Handlungsentwurfe sich aussprechenden Künstlersehn-
sucht, zur Freimachung der produktiven Kraft führen. Das aber ist kein Schöpfertum im
ursprünglichen Sinne, — es ist ein reproduktives Schöpfertum: »das Schöpfertum des
Mimen, der Wirkungen in sich aufnimmt und sie zusammenfassend wieder aus sich
herausstellt.« Und darum liegt das Ziel dieser Kunst auf einer anderen Bahn als ihr
Erleben. »Es heißt nicht Sehnsucht, Wille, Glaube, Liebe. Das sind lediglich Span-
nungskräfte. Es heißt nicht Oper, Drama, Musik. Das sind lediglich Spannungsmittel.
Das Ziel, dem Spannungskräfte und Spannungsmittel zustreben, heißt: Theater.«
 
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