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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Hildebrandt, Kurt: Friedrich Wolter's Vermächtnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0371
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BEMERKUNGEN.

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den allgemeineren Sinn des wissenschaftlichen Gedächtnisses, das alles bewahrt,
was vordem einmal wirklich und bedeutend war, sondern Geschichte bedeutet hier
enger und stärker das, was wirklich und wesentlich in uns, in der Folgezeit weiter-
besteht, fortwächst. Vieles, was vor dem Weltkriege mächtig und unantastbar
schien, geht heute niemanden mehr in diesem Sinne lebendiger Wirklichkeit etwas
an, ist damit aus der Geschichte in diesem tieferen Sinne entfallen — und manches,
über das man früher zu lächeln versuchte, hat geschichtliche Bedeutung erlangt,
weil es in dies neue Menschtum mit eingeflossen ist.

Heute hat sich die Erkenntnis ausgebreitet, daß der Deutsche seine Gestalt,
wie sie seinen höchsten geistigen Werken vorschwebt, in Wirklichkeit noch nicht er-
reicht, leiblich dargestellt hat. Die Deutschen waren die Erben des Heiligen Römi-
schen Reiches, aber in diesem Weltreich blieben die Pole des deutschen Kaisertums
und des volksfremden Papsttums bestehen. Je mehr aber das deutsche Volkstum
staatlich erwachte, um so mehr drängte es die geistliche und geistige Herrschaft
aus seinem Reiche. Es war der Traum unserer klassischen Dichtung, die beiden
Seiten, reale Macht und geistige Höhe zu vereinen in einem harmonisch geschlosse-
nen Menschtum, in leibhaft-göttlicher Schönheit. „Daß der Geist in Tat ende" war
— mit dem Ausdruck von Wolters — Goethes großer Wille, der in stolz verhüllter
Resignation endete, war Hölderlins erhabene Leidenschaft, welche in Geisteshöhen
stieg, die der Mitwelt unverständlich blieben. Die Folgezeit, die Zeit der Technik,
der wissenschaftlichen Analyse, des Fortschritts führte den Gegenweg zur Ent-
seelung und Verhäßlichung des Menschen. Vergeblich hatte Nietzsches Zorn, ge-
nährt von eisigen Erkenntnissen, an diesen Toren gerüttelt: er blieb in furchtbare
Einsamkeit gebannt. George hatte, gleichermaßen von heller Weisheit und von
lebendigem Instinkt geleitet, zuerst erkannt, daß nicht die Lehre als solche, daß nicht
die imperatorische Geste, sondern nur das lebendig wachsende Werk, der allmählich
sich wandelnde Alensch, daß nur die enge Gemeinschaft die Zelle des neuen Mensch-
tums sein könne.

So schuf er in Jahrzehnten die neue Sprache und Dichtung ohne Blick auf die
Umwelt und erst als eine größere Gemeinschaft zur Empfängnis befähigt war,
wandte sich seine Wirkung stärker nach außen. „Er trieb die Kunst als Macht,
wie einst Napoleon die Macht als Kunst und stellte zuerst das unangreifbare Werk
des Dichters in die alles zerlösende Zeit."

Die Geschichte der „Blätter für die Kunst" im eigentlichen Sinne hat damit ihren
Abschluß gefunden, von nun an kann es sich nur um ihre lebendige Auswirkung
handeln. Die „Blätter" selbst haben sich ihr Ende gesetzt mit der XI. und XII.
Folge. Die Gesamtausgabe der Werke Georges in „endgültiger Fassung" nach
fest begrenztem Plan ist im Erscheinen. Aber auch eine künftige George-Philologie
wird nichts von Belang zur Geschichte von Wolters hinzutun können, denn woher
soll sie wichtiges Material bekommen, das Wolters nicht vorgelegen und woher
ein besseres Erkennen und Deuten als Wolters durch seine natürliche Artung, sein
Leben im Werke und im Verkehr des Meisters? Man wird willig oder unwillig auch
dies Werk, in dem manche Zeile verrät, daß sie auf authentischer Nachricht und
Deutung beruht, als die endgültige Fassung der Geschichte der „Blätter für die
Kunst" anerkennen müssen.

Da Piatons VII. Brief doch nur ein kurzer Auszug ist, Dantes vita nuova
und Goethes „Dichtung und Wahrheit" aber nur Urkunden des Jugendalters sind,
so wird man sagen müssen, daß noch nie eine geistige Bewegung mit solcher Be-
wußtheit beschrieben ist von einem, der so durch Miterleben, Anschauung, Wissen
 
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