GOETHE UND DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT. 143
nach ihm auch historische Bedeutung nicht dem allein, was, stofflich
betrachtet, eine bestimmte Ausbreitung und ein bestimmtes Gewicht be-
sitzt. „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert,
denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit"1). Einen solchen
repräsentativen Augenblick sah Goethe in dem Ausbruch des Streits
zwischen Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire vor sich — und deshalb ver-
weilte sein Blick auf ihm und wurde durch ihn tiefer gefesselt, als durch
alles Geschehen des Tages. Wenn wir heute, nach hundert Jahren, auf
die Epoche Goethes zurückblicken, so fühlen wir, daß auch hier die
Vision des Dichters Goethe und seine Intuition als Naturforscher ihn
sicherer geleitet hat, als alles bloß „pragmatische" Interesse am histori-
schen Geschehen es vermocht hätte. Die Ereignisse der Julirevolution
mögen eine noch so große unmittelbare Wirksamkeit besessen haben, sie
sind nichtsdestoweniger für uns vergangen und versunken; sie sind zum
bloßen Objekt der historischen Forschung geworden. Was Goethe aber,
in jenem Gespräch mit Soret, vor Augen sah — das hat für uns noch
ganz den Charakter der vollen und konkreten Gegenwart. Wir
fühlen: hier tritt eine Entscheidung vor uns hin, die auch uns noch un-
mittelbar angeht, und die an die letzten Grundfragen unseres geistigen
Daseins rührt. Für Goethe handelt es sich in der Diskussion zwischen
Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire nicht um die Austragung eines Ge-
lehrtenstreites, sondern ihm ging es um die Entscheidung zwischen
seiner „synthetischen" Kunst- und Naturbetrachtung und der analyti-
schen Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts. Daß in Frankreich,
dem klassischen Land der Analyse, jetzt gleichfalls der Sieg der syn-
thetischen Grundanschauung erreicht schien: das war es, was ihn aufs
tiefste ergriff. Er schöpfte daraus die Zuversicht, daß die Arbeit seines
Lebens nicht vergeblich — daß das Jahrhundert endlich seinem Ideal
reif geworden sei. „Man wird" — so sagt er in dem gleichen Gespräch
mit Soret — „Blicke in große Schöpfungsmaximen thun, in die ge-
heimnisvolle Werkstatt Gottes! — Was ist auch im Grunde aller Verkehr
mit der Natur, wenn wir auf bloß analytischem Wege mit einzelnen
materiellen Teilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Atmen des
Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede
Ausschweifung durch ein innewohnendes Gesetz bändigt und sanktio-
niert. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer
Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frank-
reichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und
ich juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer
») Zu Eckermann, 3. November 1823, Oespr. III, 36.
nach ihm auch historische Bedeutung nicht dem allein, was, stofflich
betrachtet, eine bestimmte Ausbreitung und ein bestimmtes Gewicht be-
sitzt. „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert,
denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit"1). Einen solchen
repräsentativen Augenblick sah Goethe in dem Ausbruch des Streits
zwischen Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire vor sich — und deshalb ver-
weilte sein Blick auf ihm und wurde durch ihn tiefer gefesselt, als durch
alles Geschehen des Tages. Wenn wir heute, nach hundert Jahren, auf
die Epoche Goethes zurückblicken, so fühlen wir, daß auch hier die
Vision des Dichters Goethe und seine Intuition als Naturforscher ihn
sicherer geleitet hat, als alles bloß „pragmatische" Interesse am histori-
schen Geschehen es vermocht hätte. Die Ereignisse der Julirevolution
mögen eine noch so große unmittelbare Wirksamkeit besessen haben, sie
sind nichtsdestoweniger für uns vergangen und versunken; sie sind zum
bloßen Objekt der historischen Forschung geworden. Was Goethe aber,
in jenem Gespräch mit Soret, vor Augen sah — das hat für uns noch
ganz den Charakter der vollen und konkreten Gegenwart. Wir
fühlen: hier tritt eine Entscheidung vor uns hin, die auch uns noch un-
mittelbar angeht, und die an die letzten Grundfragen unseres geistigen
Daseins rührt. Für Goethe handelt es sich in der Diskussion zwischen
Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire nicht um die Austragung eines Ge-
lehrtenstreites, sondern ihm ging es um die Entscheidung zwischen
seiner „synthetischen" Kunst- und Naturbetrachtung und der analyti-
schen Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts. Daß in Frankreich,
dem klassischen Land der Analyse, jetzt gleichfalls der Sieg der syn-
thetischen Grundanschauung erreicht schien: das war es, was ihn aufs
tiefste ergriff. Er schöpfte daraus die Zuversicht, daß die Arbeit seines
Lebens nicht vergeblich — daß das Jahrhundert endlich seinem Ideal
reif geworden sei. „Man wird" — so sagt er in dem gleichen Gespräch
mit Soret — „Blicke in große Schöpfungsmaximen thun, in die ge-
heimnisvolle Werkstatt Gottes! — Was ist auch im Grunde aller Verkehr
mit der Natur, wenn wir auf bloß analytischem Wege mit einzelnen
materiellen Teilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Atmen des
Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede
Ausschweifung durch ein innewohnendes Gesetz bändigt und sanktio-
niert. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer
Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frank-
reichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und
ich juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer
») Zu Eckermann, 3. November 1823, Oespr. III, 36.