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ERNST CASSIRER.
Sache, der ich mein Leben gewidmet habe, und die ganz vorzüglich auch
die meinige ist"1).
Für die allgemeine Geistesgeschichte aber ist es von höchstem Interesse
und von höchstem Reiz, das Resultat, auf das Goethe hier hinblickte, nicht
nur als solches zu betrachten, sondern es sich auch in seinem inneren Wer-
den verständlich zu machen. Wir können dieses Werden nur verstehen,
wenn wir seine latenten Motive aufdecken — wenn wir die Wandlung ver-
folgen, die sich in der Denkart des achtzehnten Jahrhunderts selbst all-
mählich vollzieht. Zwischen dem Enzyklopädismus, der im Frankreich des
1S. Jahrhunderts die beherrschende geistige Macht war, und Goethes Grund-
anschauung scheint auf den ersten Blick keinerlei Vermittlung und Ver-
söhnung möglich zu sein. Goethe selbst hat die geistige Welt der Enzy-
klopädisten, als er sie als Student in Straßburg zuerst kennen lernte, als
durchaus fremdartig empfunden. „Wenn wir von den Enzyklopädisten
reden hörten" — so sagt er in „Dichtung und Wahrheit"1) — oder einen
Band ihres ungeheuren Werkes aufschlugen, so war es uns zu Mute, als
wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen
einer großen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarchen und Rasseln,
vor allem Aug' und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Un-
begreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden An-
stalt, in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch
zu fertigen, sich den eigenen Rock verleidet fühlt, den man auf dem Leibe
trägt". Aber von diesem allgemeinen Urteil, das offenbar auf Holbachs
„Systeme de la Nature" zielt, nimmt Goethe bezeichnenderweise gerade
denjenigen Denker aus, der der Begründer der Enzyklopädie und ihr
geistiger Führer war. Von Diderot sagt er, daß er nahe genug mit
ihm verwandt gewesen sei — und er fügt hinzu, daß er in alle dem, was
die Franzosen an ihm zu tadeln pflegten, ein wahrer Deutscher sei-). In
der Tat war Diderot, wie in der Lehre von den poetischen Gattungen, so
auch in der Lehre von den natürlichen Gattungen eigene Wege gegangen.
In seinen „Pensees sur l'interpretation de la Nature" vom Jahre 1754
hat er — gestützt auf Leibnizische Grundgedanken, die ihm durch Mau-
pertuis vermittelt waren — den Bruch mit dem Prinzip der Konstanz der
Arten vollzogen. Er fordert eine neue Art der Naturbetrachtung, die dem
lebendigen G e s c h e h e n in der Natur gerecht wird — die in den Mit-
telpunkt ihres Werdens, ihrer Formerzeugung und Form-Wandlung vor-
dringt. Dieses Werden ist nach Diderot durch den analytischen Geist der
Mathematik nicht zu erfassen: denn dieser kann sich die Veränderung
nicht anders faßbar machen, als dadurch, daß er sie in feste Elemente zer-
schlägt und aus den Beziehungen dieser Elemente erklärt. Aber diese
>) Gespräch mit Soret (in der Fassung Eckermanns), s. Qespr. V, 175 f.
-) Dichtung und Wahrheit, 11. Buch, Weim. Ausg. 28, 64.
ERNST CASSIRER.
Sache, der ich mein Leben gewidmet habe, und die ganz vorzüglich auch
die meinige ist"1).
Für die allgemeine Geistesgeschichte aber ist es von höchstem Interesse
und von höchstem Reiz, das Resultat, auf das Goethe hier hinblickte, nicht
nur als solches zu betrachten, sondern es sich auch in seinem inneren Wer-
den verständlich zu machen. Wir können dieses Werden nur verstehen,
wenn wir seine latenten Motive aufdecken — wenn wir die Wandlung ver-
folgen, die sich in der Denkart des achtzehnten Jahrhunderts selbst all-
mählich vollzieht. Zwischen dem Enzyklopädismus, der im Frankreich des
1S. Jahrhunderts die beherrschende geistige Macht war, und Goethes Grund-
anschauung scheint auf den ersten Blick keinerlei Vermittlung und Ver-
söhnung möglich zu sein. Goethe selbst hat die geistige Welt der Enzy-
klopädisten, als er sie als Student in Straßburg zuerst kennen lernte, als
durchaus fremdartig empfunden. „Wenn wir von den Enzyklopädisten
reden hörten" — so sagt er in „Dichtung und Wahrheit"1) — oder einen
Band ihres ungeheuren Werkes aufschlugen, so war es uns zu Mute, als
wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen
einer großen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarchen und Rasseln,
vor allem Aug' und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Un-
begreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden An-
stalt, in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch
zu fertigen, sich den eigenen Rock verleidet fühlt, den man auf dem Leibe
trägt". Aber von diesem allgemeinen Urteil, das offenbar auf Holbachs
„Systeme de la Nature" zielt, nimmt Goethe bezeichnenderweise gerade
denjenigen Denker aus, der der Begründer der Enzyklopädie und ihr
geistiger Führer war. Von Diderot sagt er, daß er nahe genug mit
ihm verwandt gewesen sei — und er fügt hinzu, daß er in alle dem, was
die Franzosen an ihm zu tadeln pflegten, ein wahrer Deutscher sei-). In
der Tat war Diderot, wie in der Lehre von den poetischen Gattungen, so
auch in der Lehre von den natürlichen Gattungen eigene Wege gegangen.
In seinen „Pensees sur l'interpretation de la Nature" vom Jahre 1754
hat er — gestützt auf Leibnizische Grundgedanken, die ihm durch Mau-
pertuis vermittelt waren — den Bruch mit dem Prinzip der Konstanz der
Arten vollzogen. Er fordert eine neue Art der Naturbetrachtung, die dem
lebendigen G e s c h e h e n in der Natur gerecht wird — die in den Mit-
telpunkt ihres Werdens, ihrer Formerzeugung und Form-Wandlung vor-
dringt. Dieses Werden ist nach Diderot durch den analytischen Geist der
Mathematik nicht zu erfassen: denn dieser kann sich die Veränderung
nicht anders faßbar machen, als dadurch, daß er sie in feste Elemente zer-
schlägt und aus den Beziehungen dieser Elemente erklärt. Aber diese
>) Gespräch mit Soret (in der Fassung Eckermanns), s. Qespr. V, 175 f.
-) Dichtung und Wahrheit, 11. Buch, Weim. Ausg. 28, 64.