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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Cassirer, Ernst: Goethe und das achtzehnte Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0156
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ERNST CASSIRER.

lieh geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse ver-
weisen und bei geschlossenen Türen abtun und unterdrücken1)".

Der Mann, zu dem Goethe in dieser Weise sprach, war mit seinen
naturwissenschaftlichen Arbeiten und Interessen aufs nächste vertraut:
hat doch Soret in dieser Zeit mit Goethe zusammen an der französischen
Ausgabe der „Metamorphose der Pflanze" gearbeitet. Trotzdem bekennt
Soret, daß er von Goethes Worten völlig überrascht gewesen sei. „Vor
dieser unerwarteten Erklärung" — so sagt er — „stand ich wie betäubt
und es bedurfte einiger Minuten, ehe ich mich dazu entschließen konnte,
mit Interesse auf die vielen Einzelerörterungen über ein wissenschaft-
liches Thema zu hören, das in meinen Augen, verglichen mit den großen
Dingen, die jetzt im Werke sind, sehr gleichgültig ist. Aber Goethe hat
seit zwei Wochen nichts anderes als Cuvier und Geoffroy im Kopf; er
spricht zu Jedermann davon und beschäftigt sich mit der Ausarbeitung
einer Abhandlung über diesen Gegenstand". Das Urteil, das Soret hier
fällt, ist im Kreise der Goethe-Forschung oft genug wiederholt worden.
Man belächelte es als eine Seltsamkeit Goethes und als eine greisenhafte
Grille von ihm, daß er sich in einem Augenblick, in dem die Welt um ihn
her wieder einmal in Flammen aufzugehen drohte, in seine theoretischen
Spekulationen und in seine botanischen Liebhabereien versenkte. Und
doch ist dieses Urteil ungerecht und kurzsichtig: denn es verkennt die
tiefste Eigenart von Goethes geschichtlichem Denken und Sehen. Goethe
hat auch die Geschichte nie anders als symbolisch zu sehen vermocht.
Er glaubte nicht, daß man zu ihrer echten Wirklichkeit und zu ihrer
eigentümlichen Wahrheit durchdringen könne, wenn man sich damit
begnüge, die einzelnen Geschehnisse, mochten sie als noch so wirksam
und wichtig erscheinen, am Faden der Zeit sich abspinnen zu lassen. Das
bloße Abrollen der Begebenheiten und ihre Aufbewahrung in der Er-
innerung besagte ihm nichts. „Nichts vom Vergänglichen, wie's auch
geschah — Uns zu verewigen sind wir ja da." Eine solche Ewigkeit
forderte er vom geschichtlichen Moment, wenn es wert sein wollte, fest-
gehalten zu werden. Und sie erkannte er nicht selten gerade dort, wo
andere Augen als die seinen, keinen eigentlich-geschichtlichen Gehalt zu
erblicken vermochten. Auch hier kam es ihm nicht auf die Breite der
Wirkung, sondern rein auf die Tiefe der Bedeutung an. Wie für Goethe
als Dichter das „Poetische" nicht ein objektiv-fixierbarer Charakter ist,
der sich an bestimmten Gegenständen vorfindet, anderen dagegen
mangelt, wie er vielmehr erklärt, daß kein realer Gegenstand unpoetisch
sei, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen wisse2), so eignet

l) s. Soret s Bericht über sein Gespräch. Gespr. IV, 290, und die Ergänzung
bei Eckermann, 2. August 1830, Gespr. V, 175.

a) Zu Eckermann, 5. Juli 1827, Gespr. III, 407.
 
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