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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Müller-Freienfels, Richard: Kunsterkenntnis und Kunstverständnis, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0310
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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

dern überbewußt geschieht. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Ästhe-
tik beruht darin, daß diese an sich nicht bewußte Wertung der Einzel-
heiten ins Bewußtsein erhoben werde, in der Hoffnung, daß dadurch das
Verstehen bereichert und vertieft werde.

VII. Das Verstehen der bildenden Kunst
(illustriert am Beispiel der „Sixtinischen Madonna")

Nur mit Bedenken illustriere ich, nachdem zunächst in allgemeinen
Zügen Wesen und Welt des Verstehens umrissen wurden, das Dargelegte
an konkreten Beispielen; denn ich bin dabei genötigt, das Verstehen, das
seinem Wesen nach irrational — unter- oder üb er rational — ist, in
Begriffe zu fassen, also sozusagen in „Erkennen" zu verwandeln, wobei
zugegebenerweise Wesentliches nicht zu packen ist und anderes verändert,
wenn nicht geradezu intellektualistisch entstellt erscheinen dürfte. Trotz-
dem muß, wenn wir wissenschaftlich dem an sich außerwissen-
schaftlichen ästhetischen Verstehen mindestens andeutend und annähernd
beikommen wollen, der Versuch gemacht werden. Gleichzeitig ist zu beto-
nen, daß, wenn im folgenden die seelische Wirkung eines Gemäldes und
eines Gedichts — notgedrungen — „analysiert" wird, damit nicht etwa
erschöpfende Musterbeispiele eines idealen Verstehens gegeben sein, son-
dern nur einige wesentliche Formen des Verstehens charakterisiert wer-
den sollen, die Voraussetzungen sind für jenes ideale Kunsterleben,
das jeder nur auf Grund seines eignen größeren oder kleineren seelisch-
geistigen Besitzes erfüllen kann.

Und zwar wähle ich Raffaels Sixtinische Madonna, weil sie so bekannt
ist, daß man auch ohne Illustration davon sprechen kann.

Nehmen wir zunächst nur „erkennend", unter möglichster Zurück-
drängung alles „Verstehens", zu dem Bilde Stellung, so bezieht sich das
Erkennen vor allem auf das Gegenständliche der Darstellung.
Völlig „übersprungen" wird in der Regel die Tatsache, daß „gegeben"
nur Farbeindrücke sind, die von Pigmenten auf einer damit bemalten
Fläche ausgehen. Wir erkennen sofort, was diese Farben und die durch
sie gebildeten Formen „bedeuten". Daß menschliche Gestalten dar-
gestellt sind, bemerkt auch der oberflächlichste Betrachter ohne irgend-
welche geistige Anstrengung, obwohl er schon in diesem Erkennen die
Sinnesgegebenheiten mannigfach ergänzt; ja, indem er die gesehenen
Gestalten als „Menschen", als „beseelte Wesen" anspricht, spielt sogar
ein primitives Verstehen mit.

Der gebildete Betrachter jedoch erkennt mehr. Aus seinem Wissen
heraus wird er in der Hauptperson die Madonna mit dem Jesuskinde er-
kennen, in den beiden andern Gestalten Heilige, wozu ihm der Heiligen-
 
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