KUNSTERKENNTNIS UND KUNSTVERSTÄNDNIS
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Italienisch kann, so versteht man ein Gemälde Giottos nur, wenn man die
Formensprache des Trecento überhaupt verstehen gelernt hat. Dazu ge-
hört in diesem Falle zunächst die Ausschaltung inadäquater Einstellun-
gen und Forderungen, die das Verstehen hemmen. Der durchschnittliche
Betrachter von heute stößt sich zunächst daran, daß er die moderne Per-
spektive vermißt, daß die „Verkürzung" noch nicht gemeistert ist und an
ähnlichen technischen Mängeln. Erst wenn man darüber hinwegsehen
gelernt hat, erschließt sich der Wert dieser Kunst.
Fragen wir nun, wodurch sich die einzelnen Stile unterscheiden, so
werden zumeist präzise Formunterschiede namhaft gemacht, etwa die
Verwendung des Rund- oder Spitzbogens usw. Aber diese sind nur
gewirkter Geist, nicht der wirkende Geist, der vor allem Wertung ist. Man
hat daher seit langem spezifische ästhetische „Kategorien" herausgeho-
ben, die in Wahrheit Sonderformen des ästhetischen Wertens sind und
die vor allem verstanden werden müssen, wenn man dem spezifischen
Geist eines Kunstwerks näherkommen will. Als solche „Kategorien" hat
man das Erhabene, das Schöne, das Anmutige, das Tragische und viele
andere namhaft gemacht, die alle auf verschiedene geistige Wertungen,
Gesinnungen oder „Haltungen" zurückgehen und die ihrerseits erst die
speziellen Formen hervorbringen.
So gewiß also der Stil „Form" ist, „verstanden" werden Stil und
Form erst dann, wenn man nicht bloß das Geformte „erkennt", sondern
den formenden Geist, die Gesinnung und die Wertung „versteht", die
jenen Formen erst ihren „Gehalt" geben. Bei Gebrauchsgegenständen
stellt sich der gestaltete Wert als „Zweck" dar, der meist so einfach ist,
daß er auch mit dem Verstände „erkannt" werden kann. Eine Maschine
versteht man, wenn man ihren „Zweck" erfaßt. Auch bei Sitten, wissen-
schaftlichen Darlegungen, sozialen Einrichtungen, religiösen Kulten gilt
es den Zweck zu verstehen, obwohl dieser z. B. bei Sitten oder Kultakten
keineswegs immer klar bewußt ist. Der Kunst gegenüber verwendet man
ungern den Begriff des Zweckes, weil man dabei leicht an praktische
und intellektuelle Zwecke denkt. Trotzdem ist die Kunst nicht ganz zweck-
frei, die künstlerische Gestaltung ist nicht „zwecklos", wenn auch nicht
immer ein klares Zweckbewußtsein vorhanden ist. Aber einen Sinn,
einen Wert haben im echten Kunstwerk alle Einzelheiten und Einzelfor-
men. Kant definiert ja Schönheit als die „Form der Zweckmäßigkeit eines
Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahr-
genommen wird". Das will sagen, daß der Zweck nicht mit dem Verstände
erkannt zu sein braucht, wenn er in seinem Werte doch verstanden wird.
Das geistige Verstehen eines Kunstwerks besteht darin, daß man es als
„Einheit in der Mannigfaltigkeit" erlebt, d. h. daß man in allen Einzel-
heiten die einheitliche Wertsetzung herausspürt, was nicht bewußt, son-
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Italienisch kann, so versteht man ein Gemälde Giottos nur, wenn man die
Formensprache des Trecento überhaupt verstehen gelernt hat. Dazu ge-
hört in diesem Falle zunächst die Ausschaltung inadäquater Einstellun-
gen und Forderungen, die das Verstehen hemmen. Der durchschnittliche
Betrachter von heute stößt sich zunächst daran, daß er die moderne Per-
spektive vermißt, daß die „Verkürzung" noch nicht gemeistert ist und an
ähnlichen technischen Mängeln. Erst wenn man darüber hinwegsehen
gelernt hat, erschließt sich der Wert dieser Kunst.
Fragen wir nun, wodurch sich die einzelnen Stile unterscheiden, so
werden zumeist präzise Formunterschiede namhaft gemacht, etwa die
Verwendung des Rund- oder Spitzbogens usw. Aber diese sind nur
gewirkter Geist, nicht der wirkende Geist, der vor allem Wertung ist. Man
hat daher seit langem spezifische ästhetische „Kategorien" herausgeho-
ben, die in Wahrheit Sonderformen des ästhetischen Wertens sind und
die vor allem verstanden werden müssen, wenn man dem spezifischen
Geist eines Kunstwerks näherkommen will. Als solche „Kategorien" hat
man das Erhabene, das Schöne, das Anmutige, das Tragische und viele
andere namhaft gemacht, die alle auf verschiedene geistige Wertungen,
Gesinnungen oder „Haltungen" zurückgehen und die ihrerseits erst die
speziellen Formen hervorbringen.
So gewiß also der Stil „Form" ist, „verstanden" werden Stil und
Form erst dann, wenn man nicht bloß das Geformte „erkennt", sondern
den formenden Geist, die Gesinnung und die Wertung „versteht", die
jenen Formen erst ihren „Gehalt" geben. Bei Gebrauchsgegenständen
stellt sich der gestaltete Wert als „Zweck" dar, der meist so einfach ist,
daß er auch mit dem Verstände „erkannt" werden kann. Eine Maschine
versteht man, wenn man ihren „Zweck" erfaßt. Auch bei Sitten, wissen-
schaftlichen Darlegungen, sozialen Einrichtungen, religiösen Kulten gilt
es den Zweck zu verstehen, obwohl dieser z. B. bei Sitten oder Kultakten
keineswegs immer klar bewußt ist. Der Kunst gegenüber verwendet man
ungern den Begriff des Zweckes, weil man dabei leicht an praktische
und intellektuelle Zwecke denkt. Trotzdem ist die Kunst nicht ganz zweck-
frei, die künstlerische Gestaltung ist nicht „zwecklos", wenn auch nicht
immer ein klares Zweckbewußtsein vorhanden ist. Aber einen Sinn,
einen Wert haben im echten Kunstwerk alle Einzelheiten und Einzelfor-
men. Kant definiert ja Schönheit als die „Form der Zweckmäßigkeit eines
Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahr-
genommen wird". Das will sagen, daß der Zweck nicht mit dem Verstände
erkannt zu sein braucht, wenn er in seinem Werte doch verstanden wird.
Das geistige Verstehen eines Kunstwerks besteht darin, daß man es als
„Einheit in der Mannigfaltigkeit" erlebt, d. h. daß man in allen Einzel-
heiten die einheitliche Wertsetzung herausspürt, was nicht bewußt, son-