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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Müller-Freienfels, Richard: Kunsterkenntnis und Kunstverständnis, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0308

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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

der geistig verstehende Betrachter sieht darin ein B i 1 d des Lebens; nicht
was dargestellt ist, sondern wie es dargestellt ist, interessiert ihn in
erster Linie, nicht der „Inhalt", sondern die „Form" und jenseits beider
der „Gehalt". Das geistige Verstehen wertet das Kunstwerk, auch wo es
„Natur" wiedergibt, doch nicht als Natur, sondern als geistig ge-
staltete Natur, als vergeistigte Natur, und zwar auf Grund jener
geistigen Anlagen, die er innerhalb der Kultur ausbildet. Man kann eine
gemalte Landschaft „seelverstehend" erleben, indem man die „Stimmung"
darin erlebt; geistverstehend jedoch wertet man sie erst, indem man sie
als Bild, als gekonnte Darstellung, als geistige Formung, wertet.

Eine so notwendige Voraussetzung das allgemeine Kunstverstehen für
jedes speziellere Kunstverstehen ist, zum wirklichen Verstehen eines
besonderen Kunstwerks wird das Verstehen erst dann, wenn auch der
Geist dieses besonderen Kunstwerkes, seine spezifische
Geistigkeit verstanden ist! Nun könnte man zwar annehmen, daß sich
einem empfänglichen Betrachter der Geist jedes echten Kunstwerks ganz
unmittelbar erschließe; die geschichtliche Erfahrung beweist jedoch, daß
dem nicht so ist. Man versteht nur den Geist, dem man gleicht. Und da
Geist, wie wir sahen, nicht Natur ist, sondern Kultur, so versteht man
unmittelbar nur den Geist des Kulturkreises, dem man angehört. Wie man
nicht, ohne Ägyptisch oder Chinesisch „gelernt" zu haben, diese Spra-
chen versteht, so versteht man auch nicht ohne weiteres ägyptische oder
chinesische Kunst. Tatsache ist, daß die hohe Kunst ganzer Kulturen
von Angehörigen späterer Epochen gar nicht mehr „verstanden" wur-
de. Auch die geistigsten Menschen des Rococo hatten kein Verständnis
für die gotische Kunst. Und die meisten „klassizistisch" geschulten
Kunstfreunde des 19. Jahrhunderts hatten, von Goethe angefangen, zur
Kunst des Barock gar kein innerliches Verhältnis. Sie „verstanden"
die Werke nicht; diese hatten ihnen „nichts zu sagen". Wie die mensch-
liche Lautsprache, so zerfällt auch die Kunstsprache in viele Sonderspra-
chen und Dialekte, die man „erlernen" muß, um sie zu verstehen. Wir
nennen die künstlerischen Sondersprachen „Stile", in denen sich der
„Geist" ganzer Epochen und Völker ausdrückt. Denn der Stil ist nicht
bloß leere Formgebung, sondern Formgebung eines spezifischen Gei-
stes, der in der Form verstanden werden muß, nicht mit dem Intellekt
„erkannt", sondern in seinem Wertgehalt „verstanden". Aber erlernt wer-
den muß und kann auch das Verstehen fremder Kunstsprachen wie das
fremder Wortsprachen; und zwar wird dies Verstehen gewöhnlich nicht
an e i n e m Kunstwerk erlernt, wie man ja auch in der Wortsprache nicht
bloß einzelne Sätze verstehen lernt, sondern die einzelnen Sätze aus
einem weitgehenden Verstehen der fremden Sprache überhaupt versteht.
Wie es nicht möglich ist, ein Sonett Petrarcas zu verstehen, ohne daß man
 
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