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Primavera, Ausschnitt, 1480-1482 (Kat.37)


eben dem autonomen Bildnis zählt das großformatige mythologische Gemälde
zu den eigentlichen Neuerungen der Kunst des 15. Jahrhunderts in Italien. Während
die Künstler bei narrativen Freskenzyklen und bei Altarbildern auf bestehende
formale und inhaltliche Lösungen zurückgreifen konnten, betraten sie im Falle
mythologischer Gemälde weitgehend Neuland. Zwar war in den mittelalterlichen
Handschriften das Erbe der Antike lebendig geblieben, doch eine naturalistische und
ins Monumentale gesteigerte Darstellung antiker Inhalte hielt erst mit der Renais-
sance ihren triumphalen Einzug in die Kunstgeschichte. Die entsprechenden Bild-
inhalte, aber auch die teilweise in Anlehnung an erhaltene Werke des Altertums
übernommene Formensprache behielten als Kanon der Kunstgeschichte bis weit in
das 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit.
Es ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, daß monumentale .Einzel-
gemälde mythologischen Inhalts in Florenz erfunden wurden. Vorläufer der Ge-
mälde Botticellis waren die nicht erhaltenen Bilder mit den Taten des Herkules, die
Antonio und Piero del Pollaiuolo um 1460 für den großen Saal des Palazzo Medici
in Florenz schufen. Sie zielten darauf ab, dem Auftraggeber und den Betrachtern die
Taten des antiken Helden Herkules als beispielhafte Tugendmuster vor Augen zu
führen. Ähnliches gilt auch für die mythologischen Nebenszenen in der 1464 bis
1474 geschaffenen Camera picta Andrea Mantegnas im Castello San Giorgio zu
Mantua. Es folgten zwischen 1466 und 1470 die Darstellungen im Palazzo Schifanoia
zu Ferrara, in denen Francesco del Cossa und andere Künstler die ewige Herrschaft
der olympischen Götter dem idealen und glücklichen Regiment Borso d’Estes gegen-
überstellten. Eine Wendung nahmen die Darstellungen aus der antiken Götterwelt
schließlich mit den mythologischen Einzelbildern Sandro Botticellis, die sich in ihrer
Liebesdidaktik vorwiegend an die Heranwachsenden der Medici und ihrer Klientel
richteten. Diese Gemälde, von denen bislang die Primavera am überzeugendsten
gedeutet ist, haben bis heute unsere Vorstellung vom mythologischen Bild geprägt.
Mit den überaus zahlreichen Interpretationen zu Botticellis Primavera
(Abb. S. 68/69) ließe sich mühelos ein Bücherschrank füllen, doch bei Lichte betrach-
tet sind die Deutungsmöglichkeiten weitgehend erschöpft. Wir kennen inzwischen
den ursprünglichen Kontext, den Auftraggeber und die Adressaten des Bildes sowie
die ihm zugrundeliegenden Textquellen. Über kaum ein anderes Einzelbild der italie-
nischen Renaissance sind wir besser informiert als über die Primavera. Zu den
Glanzzeiten der Ikonologie, als der Kontext für das Gemälde noch unbekannt war,
konnte praktisch jede in sich schlüssige Deutung eine gewisse Gültigkeit beanspru-
chen, doch das hat sich mittlerweile radikal geändert: Angesichts der inzwischen
weitgehend konsolidierten Sachforschung ist Botticellis Bild heute kein Feld belie-
biger hermeneutischer Optionen mehr.
Eine Präzisierung und damit zugleich eine Eingrenzung der Deutungsmög-
lichkeiten von Botticellis Primavera ergibt sich in erster Linie aus ihrer erfolgreichen
Kontextualisierung. Das großformatige Gemälde befand sich ursprünglich im Stadt-
haus der jüngeren Medici-Linie in Florenz. Es hing im Schlafzimmer Semiramide

66 [Die Primavera, Minerva und der Kentaur]
 
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