DOI Artikel:
Gottlieb, Aurelie: Repräsentative Ausländische Künstler
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.9254#0013
REPRÄSENTATIVE AUSLÄNDISCHE KÜNSTLER
VON DR. AU REUE GOTTLIEB
Daß Revolutionäre von gestern die Herren
von heute sind, dies ist der Lauf der Welt.
Picasso, Braque, Modigliani, Vlaminck.Derain,
die nach so manchen heißen Kämpfen der heu-
tigen jungen Künstlergeneration geistige Väter
geworden sind, herrschen, wie nur einst, in
fernen patriarchalischen Zeiten, Väter zu herr-
schen pflegten: ohne jede Widerrede. Wohl
gibt es Outsider, die still eigne Wege gehen;
doch prinzipiellen Gegensatz gibt es nicht. Un-
bestreitbar und von niemanden bestritten sind
sie. Repräsentative Männer, in deren Wer-
ken zu lesen ist, was unsere Zeit — zumal
die lateinische Welt unserer Gegenwart — be-
wegt und was auszusprechen sie sich bemüht.
Picasso und Braque, die beiden Erfinder des
Kubismus, haben in ihrer Kunst das Ikarus-
Schicksal des modernen Geistes verkörpert.
Wer weiß, vielleicht werden sie einmal im Be-
wußtsein später Nachfahren als legendenhafte
Gestalten fortleben, deren bloßer Name ver-
flossene Epochen wachruft.
Ob es der Weltschmerz war, von demPicassos
frühe Werke zeugen, der ihn zu einer Flucht
aus der Wirklichkeit trieb, oder Empörung gegen
eine Kunst, die sich der Natur gegenüber rein
XXXIL April 19S9. 1
passiv verhielt, ihn bewog, nun umgekehrt die
Souveränität des Geistes zu überspannen, ob
es der Überdruß an der endlos wiederholten
illusionistischen Wiedergabe der Dinge war, der
ihm die Idee eingab, alles Überkommene zu
vergessen und unvoreingenommenen Blickes
die Welt neu zu gestalten, oder die Einsicht in
die Haltlosigkeit der herrschenden Anarchie ihn
eine neue Gesetzmäßigkeit aufzurichten veran-
laßte — wir wissen es nicht. Wahrscheinlich
spielten alle diese Motive mit, als Picasso, der
Spanier, dem von seiner arabischen Verwandt-
schaft her abstrakte Malerei vertraut sein dürfte,
und Braque, der Vollblutfranzose, dem Vorliebe
für Mathematik im Blute steckt, den in Europa
ersten Versuch unternahmen, eine Kunst zu
schaffen, die ohne jeden Kontakt mit der Wirk-
lichkeit ist, und deren Gebilde eine abstrakte
Welt umschreiben. Das Unternehmen war kühn.
' Doch bald, nach kurzer Zeit rein kubistischen
Malens, sehen wir Picasso aus seinen wirklich-
keitsfernen Sphären in die Welt der greifbaren
Gegenstände zurückkehren. Mit einer Wollust,
die nur durch die Entbehrungen jenes Aufent-
haltes in der körperlosen kubistischen Welt
verständlich werden kann, schwelgt er nun im
VON DR. AU REUE GOTTLIEB
Daß Revolutionäre von gestern die Herren
von heute sind, dies ist der Lauf der Welt.
Picasso, Braque, Modigliani, Vlaminck.Derain,
die nach so manchen heißen Kämpfen der heu-
tigen jungen Künstlergeneration geistige Väter
geworden sind, herrschen, wie nur einst, in
fernen patriarchalischen Zeiten, Väter zu herr-
schen pflegten: ohne jede Widerrede. Wohl
gibt es Outsider, die still eigne Wege gehen;
doch prinzipiellen Gegensatz gibt es nicht. Un-
bestreitbar und von niemanden bestritten sind
sie. Repräsentative Männer, in deren Wer-
ken zu lesen ist, was unsere Zeit — zumal
die lateinische Welt unserer Gegenwart — be-
wegt und was auszusprechen sie sich bemüht.
Picasso und Braque, die beiden Erfinder des
Kubismus, haben in ihrer Kunst das Ikarus-
Schicksal des modernen Geistes verkörpert.
Wer weiß, vielleicht werden sie einmal im Be-
wußtsein später Nachfahren als legendenhafte
Gestalten fortleben, deren bloßer Name ver-
flossene Epochen wachruft.
Ob es der Weltschmerz war, von demPicassos
frühe Werke zeugen, der ihn zu einer Flucht
aus der Wirklichkeit trieb, oder Empörung gegen
eine Kunst, die sich der Natur gegenüber rein
XXXIL April 19S9. 1
passiv verhielt, ihn bewog, nun umgekehrt die
Souveränität des Geistes zu überspannen, ob
es der Überdruß an der endlos wiederholten
illusionistischen Wiedergabe der Dinge war, der
ihm die Idee eingab, alles Überkommene zu
vergessen und unvoreingenommenen Blickes
die Welt neu zu gestalten, oder die Einsicht in
die Haltlosigkeit der herrschenden Anarchie ihn
eine neue Gesetzmäßigkeit aufzurichten veran-
laßte — wir wissen es nicht. Wahrscheinlich
spielten alle diese Motive mit, als Picasso, der
Spanier, dem von seiner arabischen Verwandt-
schaft her abstrakte Malerei vertraut sein dürfte,
und Braque, der Vollblutfranzose, dem Vorliebe
für Mathematik im Blute steckt, den in Europa
ersten Versuch unternahmen, eine Kunst zu
schaffen, die ohne jeden Kontakt mit der Wirk-
lichkeit ist, und deren Gebilde eine abstrakte
Welt umschreiben. Das Unternehmen war kühn.
' Doch bald, nach kurzer Zeit rein kubistischen
Malens, sehen wir Picasso aus seinen wirklich-
keitsfernen Sphären in die Welt der greifbaren
Gegenstände zurückkehren. Mit einer Wollust,
die nur durch die Entbehrungen jenes Aufent-
haltes in der körperlosen kubistischen Welt
verständlich werden kann, schwelgt er nun im