Fliegende Blätter (137.1912 (Nr. 3493-3518))

Wine Mutter, die frühzeitig ihr einziges Kind ans der Erde
hatte zurücklasscn müssen, kam jeden Morgen zu dem Engel im
Himmel, der das Glück der Menschen mißt, und bat: „Gib ihr!
^ib ihr noch ein Teil!"

Und lächelnd legte er immer wieder ein gutes Teil Glück in die
Wagschale, daß die andere — jene des Leids — höher und höher stieg.

„Gib ihr Glück! Gib ihr!" bat die Mutter von neuem.
„Noch ist jene Schale oben nicht leer!"

Ms sie aber eines Morgens wieder so stehte, schüttelte der
^»gcl ernst und milde das Haupt.

„Wünsche nichts Törichtes!" sprach er gütig. „Soll sie das

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höchste Glück genießen, so darf die Schale des Leids nicht
ganz leer sein!"

„Nicht ganz leer?" fragte sie mit Tränen im Blick. „Ich
verstehe Dich nicht!"

„Gibt es ein höheres Glück als das der Mutter?" ant-
wortete er sanft.

„Nein! Nein!" rief sie und ihre Augen leuchteten. „Nein!
Nicht im Himmel und nicht ans der Erde!"

„Und gibt cs ein Mutter glück ohne Mutterleib?"
fügte er leise hinzu.

Da senkte sic den Blick und ging still hinweg.

IU. Herbert.