Ein Abenteuer
zurückgelegt — da plötzlich mit einem schrillen Pfiff der Lokomotive
hielt der Zug mitten auf freiem Felde an. Eben war der
Provisor in Gedanken mit einem tiefen Bückling in das Zimmer
des Ministers getreten, als ihn draußen die Frage eines Passa-
giers an den Schaffner, was es denn gäbe, aus seinem Sinnen
aufstörte, denn er hörte ganz deutlich, wie der Schaffner ant-
wortete: „Ein Radreifen an der Maschine ist gesprungen!"
Was half alles Zetern und Schimpfen der Passagiere. Erst
nach einer Stunde traf eine andere Maschine ein, die den Zug
nach der nächsten Station beförderte, und es fuhr unserem
Küferling eiskalt durch die Glieder, als es hier hieß, der Zug
habe den Anschluß versäumt und könne erst in drei Stunden
weiter befördert werden. So kam es, daß der Provisor, statt
Nachmittags um fünf Uhr, erst um Mitternacht in der Residenz
eintraf. In einem bescheidenen Hotel, das ihm ein Mefserwitzer
Kaufherr empföhlen, kam er zu später Nachtruhe. Die erste
Frage an den Kellner war, ob in der Nähe des Hotels ein
Friseur wohne. Mit verständnißinnigem Blick auf das Locken-
Haupt des Provisors erklärte derselbe, es sei allerdings zufällig
kein Friseurladen in der Nähe, aber an jedem Morgen erscheine
ein tüchtiger Barbier in dem Hotel, der — wie alle Residenz-
Barbiere — auch ein perfecter Friseur sei.
Unruhig wälzte sich Käferling auf seinem Lager, und erst
gegen Morgen schlief er ein. Es war schon heller Tag, als
er erwachte. Seine Uhr zeigte die siebente Stunde und um
neun sollte er bereits im Ministerhütel sein. Entsetzt sprang
er aus dem Bette und riß an der Zimmerglocke.
„War der Barbier schon da?" rief er dem Kellner entgegen.
„Jawohl!" war die Antwort, „schon vor einer Stunde.
Ich habe auch wiederholt an der Zimmerthür geklopft, aber der
Herr schien noch im besten Schlafe zu liegen. Der Barbier
hat versprochen, in einer halben Stunde wiederzukommen."
Mit fliegender Eile bereitete Nikodemus Alles zur Staats-
visite vor. Die halbe Stunde war verstrichen, aber der ersehnte
Barbier wollte noch immer nicht kommen. So entsetzlich dem
Provisor zuerst der Gedanke gewesen war, die wallende Zier
seines Hauptes fallen zu sehen, so war seine Stimmung all-
mählich ganz in das Gegentheil umgeschlagen. Herunter mit
den langen Haaren um jeden Preis, oder Adieu jede Hoffnung
auf Erfolg beim Minister, war bei ihm zur Gewißheit ge-
worden. Er klingelte abermals den Kellner herbei und dieser
mußte den Hausknecht in die Behausung des Hötel-Bnrbiers
jagen. Nach zehn Minuten kehrte derselbe zurück und berichtete,
der Barbier sei zu einem Kranken gerufen worden, um dem-
selben Blutegel anzusetzen, werde aber jeden Augenblick zurück-
erwartet. Herrn Küferling brach allgemach der Angstschweiß
aus, denn es war bereits acht Uhr geworden. Ungeduldig
steckte er wohl zehnmal den Kopf zum Fenster hinaus, um nach
dem säumigen Barbier auszuschauen.
Da endlich wackelte ein kleiner, dicker Mann mit freund-
lichem Gesicht und eigenthümlich gespreizten Beinen um die
Straßenecke, eine schwarze, lederne Tasche, wie sie die Barbiere
zu tragen pflegen, unter dem Arme.
„He! Pst! Sie da!" ries der Provisor eifrig zum Fenster
in der Residenz. 163
hinaus. Der kleine Mann blieb stehen und blickte verwundert
zu dem Fremden hinauf.
„Ja, ja. Sie meine ich!" schrie Küferling ungeduldig.
„Bitte, kommen Sie doch rasch herauf!"
Der Dicke schüttelte verwundert den Kopf, trat aber ohne
Zögern in das Haus ein. Der Provisor erwartete ihn an
der Thüre seines Zimmers.
„Sind Sie vielleicht der Hütel-Barbier?" rief er dem die
Treppe Hinaufstampfenden entgegen. Ein spöttisches Lachen
glitt über das runde Gesicht des Dicken, das aber der geängstigte
Provisor natürlich gar nicht bemerkte.
„Es thut mir aufrichtig leid, mein Herr", sagte er dann,
„aber der Hotel-Barbier bin ich zu meinem großen Bedauern
n i ch t."
„Nun, das ist auch ganz egal", sagte der Provisor, „es
ist mir unmöglich, noch länger auf diesen Kerl zu warten.
Bitte, schneiden Sic mir das Haar, aber um Gotteswillen nur
rasch, ich habe keine Minute mehr zu verlieren!"
Der Dicke schmunzelte vergnügt und zwinkerte mit seinen
kleinen Schelmenaugen, während er dem voraneilenden Küferling
in das Zimmer folgte.
„Aber, mein Herr", meinte er dann, „ich habe gar keine
Zeit, Ihnen die Haare zu schneiden und außerdem —"
„Ei was, keine Zeit!" unterbrach ihn der Provisor, der
bereits einen Stuhl in die Nähe des Fensters gerückt und ein
Handtuch um die Schultern geworfen hatte, „lassen Sie heute
einmal Ihre Kunden eine halbe Stunde warten; Sie thun
mir wirklich einen großen Gefallen- wenn Sie sich meiner Locken
erbarmen!"
„Nun, wenn Ihnen ein so großer Gefallen damit geschieht,
dann allerdings —" sagte der Dicke, indem er Hut und Leder-
tasche ablegte. „Haben Sie eine Scheere?"
„Mein Gott, Sie haben nicht einmal eine Schecre bei
sich!" rief Küferling ärgerlich aufspringend und die Zimmer-
glocke läutend, Nach wenigen Sekunden hatte der Kellner eine
Scheere gebracht, und es kam wie ein Gefühl der Befriedigung
über den Provisor, als er das scharfe Eisen endlich in seinem
Haupthaar knirschen hörte.
Der Dicke schmunzelte
immer vergnügter, während
er die Mähne des Provisors
munter absäbelte.
„Haben Sie es denn gar
so eilig, mein Herr? Wo
wollen Sie denn hin?"
fragte er.
„Zum Minister, lieber
Freund, zum Minister!"
antwortete Käferling. „Ich
bin Apotheker Käferling aus Messerwitz und bewerbe mich um
eine Concession in der Residenz — meine ganze Zukunft hängt
von dieser Audienz ab, und darum sputen Sie sich, lieber
Freund und schwatzen Sie nicht so viel — ich muß meine
Rede an den Minister noch einmal durchgehen." (Schluß f.)
21*
zurückgelegt — da plötzlich mit einem schrillen Pfiff der Lokomotive
hielt der Zug mitten auf freiem Felde an. Eben war der
Provisor in Gedanken mit einem tiefen Bückling in das Zimmer
des Ministers getreten, als ihn draußen die Frage eines Passa-
giers an den Schaffner, was es denn gäbe, aus seinem Sinnen
aufstörte, denn er hörte ganz deutlich, wie der Schaffner ant-
wortete: „Ein Radreifen an der Maschine ist gesprungen!"
Was half alles Zetern und Schimpfen der Passagiere. Erst
nach einer Stunde traf eine andere Maschine ein, die den Zug
nach der nächsten Station beförderte, und es fuhr unserem
Küferling eiskalt durch die Glieder, als es hier hieß, der Zug
habe den Anschluß versäumt und könne erst in drei Stunden
weiter befördert werden. So kam es, daß der Provisor, statt
Nachmittags um fünf Uhr, erst um Mitternacht in der Residenz
eintraf. In einem bescheidenen Hotel, das ihm ein Mefserwitzer
Kaufherr empföhlen, kam er zu später Nachtruhe. Die erste
Frage an den Kellner war, ob in der Nähe des Hotels ein
Friseur wohne. Mit verständnißinnigem Blick auf das Locken-
Haupt des Provisors erklärte derselbe, es sei allerdings zufällig
kein Friseurladen in der Nähe, aber an jedem Morgen erscheine
ein tüchtiger Barbier in dem Hotel, der — wie alle Residenz-
Barbiere — auch ein perfecter Friseur sei.
Unruhig wälzte sich Käferling auf seinem Lager, und erst
gegen Morgen schlief er ein. Es war schon heller Tag, als
er erwachte. Seine Uhr zeigte die siebente Stunde und um
neun sollte er bereits im Ministerhütel sein. Entsetzt sprang
er aus dem Bette und riß an der Zimmerglocke.
„War der Barbier schon da?" rief er dem Kellner entgegen.
„Jawohl!" war die Antwort, „schon vor einer Stunde.
Ich habe auch wiederholt an der Zimmerthür geklopft, aber der
Herr schien noch im besten Schlafe zu liegen. Der Barbier
hat versprochen, in einer halben Stunde wiederzukommen."
Mit fliegender Eile bereitete Nikodemus Alles zur Staats-
visite vor. Die halbe Stunde war verstrichen, aber der ersehnte
Barbier wollte noch immer nicht kommen. So entsetzlich dem
Provisor zuerst der Gedanke gewesen war, die wallende Zier
seines Hauptes fallen zu sehen, so war seine Stimmung all-
mählich ganz in das Gegentheil umgeschlagen. Herunter mit
den langen Haaren um jeden Preis, oder Adieu jede Hoffnung
auf Erfolg beim Minister, war bei ihm zur Gewißheit ge-
worden. Er klingelte abermals den Kellner herbei und dieser
mußte den Hausknecht in die Behausung des Hötel-Bnrbiers
jagen. Nach zehn Minuten kehrte derselbe zurück und berichtete,
der Barbier sei zu einem Kranken gerufen worden, um dem-
selben Blutegel anzusetzen, werde aber jeden Augenblick zurück-
erwartet. Herrn Küferling brach allgemach der Angstschweiß
aus, denn es war bereits acht Uhr geworden. Ungeduldig
steckte er wohl zehnmal den Kopf zum Fenster hinaus, um nach
dem säumigen Barbier auszuschauen.
Da endlich wackelte ein kleiner, dicker Mann mit freund-
lichem Gesicht und eigenthümlich gespreizten Beinen um die
Straßenecke, eine schwarze, lederne Tasche, wie sie die Barbiere
zu tragen pflegen, unter dem Arme.
„He! Pst! Sie da!" ries der Provisor eifrig zum Fenster
in der Residenz. 163
hinaus. Der kleine Mann blieb stehen und blickte verwundert
zu dem Fremden hinauf.
„Ja, ja. Sie meine ich!" schrie Küferling ungeduldig.
„Bitte, kommen Sie doch rasch herauf!"
Der Dicke schüttelte verwundert den Kopf, trat aber ohne
Zögern in das Haus ein. Der Provisor erwartete ihn an
der Thüre seines Zimmers.
„Sind Sie vielleicht der Hütel-Barbier?" rief er dem die
Treppe Hinaufstampfenden entgegen. Ein spöttisches Lachen
glitt über das runde Gesicht des Dicken, das aber der geängstigte
Provisor natürlich gar nicht bemerkte.
„Es thut mir aufrichtig leid, mein Herr", sagte er dann,
„aber der Hotel-Barbier bin ich zu meinem großen Bedauern
n i ch t."
„Nun, das ist auch ganz egal", sagte der Provisor, „es
ist mir unmöglich, noch länger auf diesen Kerl zu warten.
Bitte, schneiden Sic mir das Haar, aber um Gotteswillen nur
rasch, ich habe keine Minute mehr zu verlieren!"
Der Dicke schmunzelte vergnügt und zwinkerte mit seinen
kleinen Schelmenaugen, während er dem voraneilenden Küferling
in das Zimmer folgte.
„Aber, mein Herr", meinte er dann, „ich habe gar keine
Zeit, Ihnen die Haare zu schneiden und außerdem —"
„Ei was, keine Zeit!" unterbrach ihn der Provisor, der
bereits einen Stuhl in die Nähe des Fensters gerückt und ein
Handtuch um die Schultern geworfen hatte, „lassen Sie heute
einmal Ihre Kunden eine halbe Stunde warten; Sie thun
mir wirklich einen großen Gefallen- wenn Sie sich meiner Locken
erbarmen!"
„Nun, wenn Ihnen ein so großer Gefallen damit geschieht,
dann allerdings —" sagte der Dicke, indem er Hut und Leder-
tasche ablegte. „Haben Sie eine Scheere?"
„Mein Gott, Sie haben nicht einmal eine Schecre bei
sich!" rief Küferling ärgerlich aufspringend und die Zimmer-
glocke läutend, Nach wenigen Sekunden hatte der Kellner eine
Scheere gebracht, und es kam wie ein Gefühl der Befriedigung
über den Provisor, als er das scharfe Eisen endlich in seinem
Haupthaar knirschen hörte.
Der Dicke schmunzelte
immer vergnügter, während
er die Mähne des Provisors
munter absäbelte.
„Haben Sie es denn gar
so eilig, mein Herr? Wo
wollen Sie denn hin?"
fragte er.
„Zum Minister, lieber
Freund, zum Minister!"
antwortete Käferling. „Ich
bin Apotheker Käferling aus Messerwitz und bewerbe mich um
eine Concession in der Residenz — meine ganze Zukunft hängt
von dieser Audienz ab, und darum sputen Sie sich, lieber
Freund und schwatzen Sie nicht so viel — ich muß meine
Rede an den Minister noch einmal durchgehen." (Schluß f.)
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ein Abenteuer in der Residenz"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1885
Entstehungsdatum (normiert)
1880 - 1890
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 83.1885, Nr. 2104, S. 163
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg