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VÖLKER- UND KULTURWELLEN

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Ungleich günstigeren Bedingungen begegnet die Forschung dagegen in den
beiden Gebieten, wo die vorgeschichtlichen Kulturerscheinungen sich polari-
sieren. Beide waren in der Hauptsache nur einer der erwähnten Strömungen
ausgesetzt. Norddeutschland und Skandinavien sind, auch wenn sie nicht selber
die „vagina gentium" gewesen sein sollten, als die man sie wohl betrachtet, bis
tief in die Eisenzeit nie das Ziel wandernder Stämme gewesen, die die Kunst
plötzlich auf ein tieferes Niveau hätten herabdrücken können. Umgekehrt kam,
sobald sich ein neuer Herd strahlender Südkultur gebildet hatte, das Ein-
strömen von höher potenzierten, fremden Formen dort nicht mehr in Frage;
bis zum Untergang konnte die Entwicklung einen gesetzmäßigen Verlauf
nehmen. Beiden Gebieten diente die mittlere Ausgleichszone als ein Puffer, der
die fremden, das eigene Wachstum bedrohenden Strömungen auffing und ab-
schwächte.
Doch ist es wieder Nordeuropa, das dem Verständnis für die prähistorische
Kunstentwicklung in viel höherem Maße die Wege ebnet als der Urorient und
Ägypten oder das asiatisch-europäische Mittelmeergebiet. Wer die Seele des
Kindes und ihre erste Entfaltung untersuchen will, wird nicht gerade ein früh-
reifes Kind zur Beobachtung wählen. Ähnliches gilt hier, wo es sich recht eigent-
lich um die Kindheit der Kunst handelt. Es gibt keinen Grund, anzunehmen,
daß die neolithische Kulturperiode im Süden früher eingesetzt hätte als im
Norden; dagegen fand die vorhistorische Kultur Nordeuropas erst um Jahr-
tausende später ihren Abschluß, die um so mehr ins Gewicht fallen, als sich
in den späteren Entwicklungsperioden ein schnelleres Wachstum vollzieht, eine
größere innere Spannung offenbart. Wären die Verhältnisse sonst die gleichen,
so würde schon aus diesen Gründen der Norden ein weit übersichtlicheres, klarer
in sich gesondertes Material bieten. Wie bei einem langsam abrollenden Film
lassen sich die einzelnen Bewegungsstadien viel genauer unterscheiden.
Dazu kommt, daß unsere Kenntnisse vom vorhistorischen Altertum in dem
Maße nachlassen, wie wir uns den ältesten Kulturen nähern. Der Glanz der
geschichtlichen Entwicklungsstufen im orientalischen und klassischen Altertum
hat lange Zeit die Aufmerksamkeit der archäologischen Forschung für sich in
Anspruch genommen und die vorgeschichtlichen Perioden in den Schatten ge-
stellt. So ist es gekommen, daß die ältesten Kulturkreise als letzte ihre Kind-
heitsstufen offenbart haben. Während im Norden der Däne Thomsen schon
im Jahre 1836 mit seinem Dreiperiodensystem die später allgemein als richtig
anerkannte Grundlage für die Einteilung der prähistorischen Funde geschaffen
hatte, fing die Vorgeschichtsforschung in Griechenland-Kleinasien eigentlich
erst an mit den Grabungen Schliemanns seit 1871, und noch im Jahre 1896
konnte Flinders Petrie den prähistorischen Charakter der Funde von Na-
Grundzügen zu erkennen. Das mag auch der Hauptgrund sein, weshalb Ho er n es
umfassende Darstellung (Urgeschichte der bildenden Kunst) trotz so vieler frucht-
barer Gedanken kein greifbares, planmäßig aufgebautes System gibt, und daß diesem
Forscher namentlich die fundamentale Bedeutung der altnordischen Kunst völlig ent-
gangen ist,
 
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